Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
sie bemerkt. Erst als ich zu Boden ging, blickte ich direkt in ihre schreckensgeweiteten Augen. Sie hatte sich unter der Chaiselongue versteckt, wie ein kleines Tier sah sie aus, ein winziges, ängstliches Tierchen, das sich in seinem Bau verkriecht, weil draußen ein Unwetter tobt. Es hat mir fast das Herz gebrochen. Ich glaube, sie dachte, das wäre alles ihre Schuld. Und wie sollte ich ihr klarmachen, dass sie sich irrte?«
Ich flog erst zwei Wochen später zurück nach Deutschland. Ich brauchte die Zeit bei Amalie, wir brauchten sie beide. Sie erzählte mir von Clara, ich ihr von meiner Mutter. Wir sangen zusammen. Ich spielte Klavier für sie.
Clara war nicht schlecht, das darfst du nicht denken
, sagte Amalie beim Abschied am Flughafen.
Sie war nur selbst so verletzt durch ihren Mann, der sie immer betrog und ihr die Schuld für die beiden behinderten Kinder gab, und durch all den Hass, der ihr deshalb entgegenschlug. Sie war so heroisch darin, Melinda und Heinrich zu schützen. Und sie litt ganz fürchterlich unter dem Unrecht, das sie deiner Mutter antat.
Wir umarmten uns lange, und bevor mich die Schleuse zur Sicherheitskontrolle verschluckte, wandte ich mich noch einmal um, und vielleicht lag es an der Art, wie Amalie dort stand – reglos mit sehr geradem Rücken – dass ich für den Bruchteil einer Sekunde nicht sie dort stehen sah, sondern meine Mutter. Meine Mutter, die mich hatte beschützen wollen, indem sie meine Musik ablehnte. Mich beschützen vor der Musik, rein instinktiv, weil sie als vierjähriges Mädchen in jener Nacht des Jahres 1949 verinnerlicht hatte, dass Musik gefährlich war, dass Menschen, die sie liebte, deshalb schrecklich leiden mussten und einfach verschwanden.
Amalie hatte mir auch ein Päckchen in die Hand gedrückt, doch ich ließ mir Zeit, öffnete es erst, als das Flugzeug schon irgendwo über dem Atlantik durch die Nacht flog und das Kabinenlicht gedimmt wurde. Ich schlug das Papier zurück, zog eine Spanholzschachtel mit eingeprägten Schmetterlingen und Blüten hervor. Eine Kette aus grauen Steinen lag darin, die bestimmt einmal Clara gehört hatte. Ein Brief. Ein Foto, das Clara, Elise und Theodor lachend und Arm in Arm an einem Ostseestrand zeigte. Ein weiteres Foto von Amalie mit meiner Mutter auf dem Schoß, die kleine Dorothea im Alter von etwa zwei Jahren.
Ich würde die Fotos in Sellin an meine Ahnenwand hängen. Ich legte sie zurück in die Schachtel, entfaltete den Brief. Eine weibliche, runde Handschrift. Claras:
Geliebter D.! Es ist Unrecht, was wir tun. Großes Unrecht, das weißt Du. Und doch fühlt es sich so süß an, so köstlich, so rein. Auf tausenderlei Arten richtig. Als ob es die Erfüllung aller Wünsche sei, nein, viel mehr noch: Unsere Bestimmung. Unser Schicksal. Tschaikowsky, die Fünfte. Ich …
Ich ließ den Brief sinken, steckte ihn zurück in den Umschlag, ohne weiterzulesen. Was war vorher? Vor uns? Wir wissen es nicht. Wir werden es nie erfahren. Wir wissen immer nur Namen, Daten, einige willkürlich ausgewählte Details, einige herausragende Ereignisse der Chronik, die – aus welchem Grund auch immer – überliefert werden, zum Mythos heranreifen, weiter erzählt von Generation zu Generation. Und letztlich ist es egal. Was irgendwann bleibt sind die Erinnerungen. Oder das, was wir dafür halten und daraus folgern.
Ich dachte an die feinen Gesichtszüge meiner Großmutter Elise, die ich noch immer so nannte und immer so nennen würde. Ich dachte an ihren herausfordernden Blick auf diesem Jugendfoto aus Leipzig, auf dem sie die Hände in die Hüften stemmte. An ihr beglücktes Lächeln, wenn sie ein Stück Brot mit Butter und Salz aß, mit richtiger Butter, nicht mit dieser fahlen DDR-Margarine, aus der Wasser perlte, wenn man sie mit dem Messer aufs Brot strich. Ich dachte an ihre kühle Hand, die mir liebevoll übers Gesicht strich, wenn ich sie damit bestürmte, dass wir unbedingt noch einmal den Nöck hören müssten, und wie sie die Bilder bewundert hatte, die Ivo ihr malte.
Vielleicht hatte meine Mutter ihn deshalb so gefördert und angehimmelt. Weil für sie die Malerei gleichbedeutend mit Liebe gewesen war. Vielleicht hatte sie sich als Mädchen verzweifelt darum bemüht, die Liebe Elises mit selbst gemalten Bildern zu gewinnen, und war immer gescheitert.
Ich trank meinen Wein aus und packte die Schachtel in meinen Rucksack. Ich schloss die Augen und stellte mir eine lange Eiszeit vor, eine Zeit, in der alles stumm wird,
Weitere Kostenlose Bücher