Das Lied der Stare nach dem Frost: Roman (German Edition)
tatsächlich aus den Wiesen empor, wie in diesem Abendlied von Matthias Claudius, das wir mit den Großeltern immer gesungen hatten, wie in dem Kinderbuch,
Schlierilei
, das Amalie einmal geliebt hatte, meine Mutter, dann ich.
Der Himmel färbte sich allmählich rosa, ließ den Nebel wie Zuckerwatte erscheinen. Zwei Rehe glitten daraus hervor. Stumm witterten sie in meine Richtung.
Du musst ganz still sein, mein Kind, dann sehen sie dich nicht, sondern halten dich für einen Teil der Landschaft.
Wie leise die Stimme meines Großvaters in solchen Momenten gewesen war. Wie zart, ja fast zärtlich. Ein Teil der Landschaft. Ein Findling, der gar nicht hierhergehörte und dennoch hier war. Ich dachte an die Leidenschaft, mit der mein Großvater Clara geliebt hatte, und an Lorenz, und dass es so viel leichter war, sich in jemanden zu verlieben, der all das verkörperte, was man selbst im eigenen Leben vermisste, als diese Lücke selbst zu füllen, auf ganz eigene Weise.
Die Rehe begannen zu äsen, tauchten die samtigen Köpfe in den Dunst. Ein Windhauch trieb eine der Nebelbänke ganz sachte voran, ließ für Sekunden eins der Rehe auftauchen, verschluckte es wieder.
Auf einmal reichte es mir nicht mehr, mir das anzusehen. Ich wollte den Nebel fühlen, mit ihm verschmelzen. Ich wollte ihn hören.
Stille. Kühle. Ich legte mich auf den Boden, mitten in diese weißen Schleier. Ich lauschte mit weit offenen Augen. Das Geheimnis des Klangs steckt in deinem Kopf, hatte Clara Amalie erklärt. Es ist eine Art Zirpen, wie von einer Grille, ein ganz ureigenes Geräusch, das die Flimmerhärchen der Ohrinnenmuschel produzieren. Man nimmt es erst wahr, wenn man lernt, sich darauf zu konzentrieren.
Wenn du auflöst, Sinn und Klang, was hörst du dann?
Vielleicht war es das. Dieses innere Zirpen. Diese ureigene Stimme. Und auch dieses Lied hatte damit zu tun, das mich seit ein paar Tagen begleitete. Klavier und Percussion dazu, Gitarre, Bass, vielleicht Klarinetten. Ich würde das ausprobieren, ich würde den richtigen Klang finden, die passende Instrumentierung. Ich stand wieder auf, lief zurück zum Transit und suchte nach meinem Handy.
»Ich komme jetzt heim«, sagte ich, als Eike sich meldete.
Elise, 1946
Morgen nun soll dieses Kind getauft werden. Am ersten Januar, zum Beginn des neuen Jahrs. Zuerst, als Theodor es ihr in die Arme legte, hat sie gedacht, es sei ihr eigenes. Das hungrige Mäulchen, das saugte, blind, gierig, genau wie die anderen. Das Kinn Theodors, die hohe Stirn. Sie war so glücklich in diesem Moment, hat alles vergessen. Aber dann hat sie plötzlich verstanden, dass das gar nicht ihr Kind ist, sondern Claras. Claras einziges gesundes Kind. Am Ende hat sie also doch bewiesen, dass die Verwachsungen von Melinda und Heinrich nicht ihr Fehler waren, wie ihr Mann immer behauptete. Und konnte keine Freude mehr an ihrem gesunden Kindlein haben. Vielleicht ist das Gottes Art, sie zu strafen.
Barmherzigkeit – geht es nicht darum, im Christentum? Ist nicht das Jesus’ Botschaft? Er geht ohne dich zugrunde, Elise, sagt Theodors Mutter, die kam, um zu helfen und so von der Schande erfahren hat. Ja, er hat großes Unrecht getan, doch allein du hast die Kraft, ihn zurück ins Leben zu führen. Das ist deine Aufgabe als seine Ehefrau. Ihn zu stärken für sein Amt und für ihn da zu sein. Für und mit ihm zu beten.
Verzeihen, nach vorn blicken. Sie kann das nicht, will das nicht, das kann niemand von ihr verlangen. Denn es tut viel zu weh, so unsagbar weh.
Aber sie hat sich auch versündigt in jener Nacht auf dem Dachboden. Und vor ihr kniet dieser entsetzlich hagere Mann, so verletzt, so bestraft, dieser Mann, der ihr vom ersten Moment, in dem sie ihn gesehen hat, alles war, ihre Liebe. Ganz vorsichtig streckt Elise die Hand aus und streichelt seine Wange. Ganz vorsichtig zieht sie ihn in ihre Arme.
Und zum Schluss
Dies ist ein Roman und folglich sind alle Figuren sowie die Handlung und einige Schauplätze erfunden. Ein Dorf Zietenhagen sucht man auf der Landkarte vergebens, ebenso den Hauptort der Handlung, Sellin. Wer sich jedoch für die im Roman beschriebenen Fresken und die Flüstersakristei interessiert, wird in der Kirche des Dorfes Bellin nahe Güstrow fündig.
Nicht erfunden sind die im Roman erwähnten historisch bekannten Persönlichkeiten, sowie die Daten und Fakten zur politischen Entwicklung in Deutschland vom Ersten Weltkrieg bis zur Kapitulation 1945 und zum Kirchenkampf zwischen
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