Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
würde die herzensguten Lehrersleute vermissen und hoffte, dass man ihnen das Leben in der Stadt nicht allzu schwer machte.
Kaum waren sie aus der Schule heraus, kamen ihnen drei Reiter entgegen. Marie, die den Mann erkannte, der mit dem Messer auf sie losgegangen war, klammerte sich mit der rechten Hand an Philipps Arm, während sie die Linke auf ihr Mieder presste, wo sie das Tagebuch verstaut hatte. Niemand sollte je wieder einen Blick darauf werfen – außer Philip, dem sie alles erzählen würde, wenn sie denn heil aus dieser Stadt hinauskamen.
»Wir wollen die Lehrerin«, brummte der Schläger. »Corrigan will mit ihr reden.«
»Ich habe mit ihm nichts zu besprechen.«
»Auch nicht, wenn es um Ihren Verlobten geht?«
Mit dem will ich erst recht nicht sprechen, dachte Marie, während sie hilfesuchend zu Philipp schaute. Der hatte die Hand immer noch auf dem Revolver an seiner Seite liegen.
»Sie hat euch gesagt, dass sie nicht mit Corrigan sprechen will. Verschwindet und sagt das eurem Boss!«
Die Männer sahen sich an. »Ich glaube nicht, dass du uns was zu sagen hast, Landstreicher.«
Plötzlich klickte neben ihnen etwas.
»Aber ich habe euch etwas zu sagen.«
James Isbel war plötzlich hinter ihnen aufgetaucht. Auf seinem Arm lag ein großes Gewehr, mit dem er auf die Männer zielte.
»Der Lehrer!«, tönte es spöttisch von den Männern. »Seit wann können Sie denn mit einer Waffe umgehen?«
»Seit ich bei der US-Army war!«, gab Isbel zurück. »Und glauben Sie mir, ich war ein guter Schütze.«
Marie blickte Isbel ungläubig an. Offenbar hatte auch er seine Geheimnisse.
»Gehen Sie nach Hause, dann tut Ihnen niemand was.«
»Was wollen Sie mit Ihrer Kanone gegen uns drei ausrichten?«
»Nun, einen von euch werde ich erschießen, den zweiten nimmt sich Mr Carter vor, und der dritte bekommt eine Kugel von meiner Frau, die oben hinter dem Fenster steht. Glauben Sie nicht, dass wir uns nicht wehren könnten, im Ernstfall würden wir auch unsere Kinder hier auf diese Weise beschützen.«
Misstrauisch blickte der Schläger nach oben. Allison Isbel war nicht zu sehen, aber eines der Fenster stand einen Spalt weit offen.
Die Schläger überlegten eine Weile, blickten einander an, als könnten sie sich per Gedankenübertragung verständigen.
Dann spuckte der Schläger kräftig vor Isbel aus.
Marie zuckte zusammen.
»Also gut, Männer, verschwinden wir hier!« Damit zog er sein Pferd um die Hand. »Wir sehen uns wieder!«
»Das bezweifle ich!«, gab Philipp zurück, dann nickte er Isbel dankbar zu. Der war sichtlich erleichtert, dass er seine Waffe nicht hatte abfeuern müssen.
»Reiten Sie, ehe die Kerle mit ein paar Raufbolden aus dem Pub wiederkommen.«
Sieben Tage nach der Verhaftung meines Vaters und der Beerdigung meines Bruders nahm ich meine Arbeit als Lehrerin wieder auf. Der Unterricht verdrängte die trüben Gedanken ein wenig. Solange ich bei den Kindern war, war es, als hätte sich nichts verändert.
Doch sobald der Unterricht beendet war, fiel ich in ein schwarzes Loch. Jeden Tag ging ich zum Grab meines Bruders, und danach verkroch ich mich in meiner kleinen Wohnung und reiste in Gedanken zurück zu den glücklichen Tagen meiner Kindheit. Ich ließ mich verwahrlosen, flickte meine Kleider nur noch nachlässig, kaufte nichts Neues. Die Welt da draußen interessierte mich nicht mehr.
Dann kam ein neuer Pastor in unser Dorf. Da man ihm von meinem Fall berichtete, suchte er mich eines Nachmittags auf. Ich konnte ihm ansehen, dass er über meine abgemagerte Gestalt erschrocken war. Seine Versuche, mir Trost zu spenden, ertrug ich tapfer, wohl wissend, dass es nichts nützte. Kein Wort, kein Gott konnte mir meinen Bruder wiedergeben. Und keine Strafe erschien groß genug für meinen Vater, der doch eigentlich von Gott dazu verpflichtet worden war, die Gebote zu achten – und nun schon zum zweiten Mal so grausam dagegen verstoßen hatte.
Ein paar Tage später tauchte das Gesuch aus Kanada an der Kirchentür auf, und die Zeitung druckte die Annonce. Ich lachte anfangs noch darüber, doch als wenig später der Gutsherr vor mir erschien und mir eröffnete, dass mein Zustand für den Unterricht nicht länger tragbar sei, änderte ich meine Meinung. An dem Tag, als ich aus meinem Posten als Dorfschullehrerin entlassen wurde, ging ich zu Pastor Feldten und meldete mich als Freiwillige. Aufgrund meiner Vorgeschichte teilte Feldten mich einem Reverend zu, von dem er glaubte, dass er ein
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