Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)

Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Bouvier
Vom Netzwerk:
erhalten hätte, doch dann erschien eine zweite Person in der Tür. Unser Vater.
    Wie immer trug er seinen Lutherrock, und wie immer musterte er mich mit kaltem Blick. Nur dass seine Augen diesmal glasig waren.
    »Guten Abend, Vater«, begann ich vorsichtig und erhob mich hinter meinem Schreibtisch. Peters Miene machte mir deutlich, dass er wegen mir hier war, allein wegen mir.
    »Ich werde dich verheiraten«, verkündete er, während er sich wie früher vor uns aufbaute, wenn er uns eine Strafpredigt hielt.
    »Vater!« Etwas anderes brachte ich vor Überraschung nicht heraus.
    »Das kann nicht dein Ernst sein«, sagte Peter, der schneller als ich begriffen hatte, dass dies kein Scherz war.
    »Sie wird heiraten. Jede Frau muss heiraten, anstatt ihre Zeit mit Arbeit zu vergeuden. Jede Frau muss Kinder bekommen, und sie wird Kinder bekommen.«
    Peter sah sich zu mir um. Ich fühlte mich, als würde sich ein Loch unter meinen Füßen auftun und mich verschlingen.
    »Sie ist schon viel zu alt! Eine alte Jungfer!«, wetterte mein Vater. »Ein oder zwei Jahre weiter, und ich kriege sie nicht mehr unter die Haube.«
    »Aber muss ich denn unter die Haube?«, wagte ich mich vor. »Ich bin Lehrerin! Du hast doch nicht umsonst das ganze Geld für meine Ausbildung ausgegeben, oder?«
    Mein Vater funkelte mich mit gesenktem Nacken an, wie ein Hund, der sich jeden Augenblick auf seinen Gegner stürzen will.
    »Die Schrift sagt, das Weib soll dem Manne untertan sein. Und das wirst du. Ich habe dir einen Mann gesucht, und den wirst du heiraten.«
    »Wen soll sie denn heiraten?«, fragte Peter, wie immer bemüht, das Gewitter abzuschwächen, das sich über uns zusammenbraute.
    »Pastor Breuer aus dem Nachbardorf. Seine Frau ist gestorben, er braucht eine neue Pfarrfrau.«
    »Nein!«, entfuhr es mir, denn der »Auserwählte« war im gleichen Alter wie unser Vater. »Ich werde ihn nicht heiraten. Ich werde weiterhin als Lehrerin arbeiten.«
    »Du wirst tun, was ich dir sage!« Vaters Stimme klang so drohend, dass mir das Blut in den Adern gefror.
    Ich wusste, dass Starrsinn zu nichts führte, also wagte ich einen anderen Versuch.
    »Vater, was habe ich dir nur getan, dass du mich so behandelst? Dass du mein Glück ruinieren willst? Ist es wegen Luise? Weil ich euch damals gesehen habe? Nicht ich habe sie fortgeschickt, sondern du. Wenn du sie geliebt hast, warum hast du sie fortgeschickt?«
    Mit einem Wutschrei stürmte er auf mich zu. Ich sah zunächst nur seine ausgestreckten Hände, dann spürte ich sie um meinen Hals.
    »Vater, nein!«, schrie Peter und stürzte sich auf ihn. Der Griff um meinen Hals ließ nach, doch nun rangen die beiden Männer miteinander.
    Ich schnappte nach Luft, wollte die beiden trennen, denn ich sah das Unheil kommen, und dann geschah es. Peter flog nach hinten, stolperte, dann ertönte ein Krachen.
    Alles ging so schnell, dass ich es gar nicht richtig erfassen konnte.
    Peter war von Vater gestoßen worden – und dann?
    Erst als ich das Blut an der Kante des schweren Schreibtisches sah, wurde mir klar, dass er dort aufgeschlagen sein musste. Mit dem Gefühl, dass alle Luft aus meinen Lungen gewichen war, warf ich mich auf Peters reglosen Leib, sah ihm in die weit aufgerissenen Augen.
    »Peter!«, flüsterte ich, ohne darauf zu achten, was mein Vater tun würde. Ach, hätte er mich in dem Augenblick doch erwürgt, wie er es vorgehabt hatte! Doch er blieb mir fern, als hätte dieses Krachen einen Zauber um Peter und mich gewoben, der es ihm unmöglich machte, zu uns vorzudringen.
    Als ich Peters Kopf vorsichtig anhob, um ihn auf meinen Schoß zu betten, so wie wir es als Kinder unter dem Fliederbusch manchmal getan hatten, spürte ich, dass er sich das Genick gebrochen hatte. Ein dünner Blutfaden rann ihm aus der Nase, doch das Licht in seinen Augen war erloschen.
    »Nein!«, schrie ich, so laut, dass es die Nachbarn hören konnten. Mein Vater wich weiter zurück. Ich hätte damit gerechnet, dass er fliehen würde, doch er blieb wie angewurzelt stehen, die Augen weit aufgerissen, den Mund zuckend unter Worten, die er nie aussprechen würde.
    Dass Schritte die Treppe hinaufpolterten, bekam ich gar nicht mit. Ich nahm das Gesicht meines Bruders in die Hände und küsste es, als könnte ich ihm dadurch wieder Leben einhauchen. Doch so sehr ich ihn auch streichelte und wiegte, er rührte sich nicht. Nie wieder würde er zum Leben erwachen.
    Als der Gendarm erschien, ließ sich mein Vater ohne Widerstand

Weitere Kostenlose Bücher