Alma Mater
Alma Mater
Würde man weise werden, indem man Bücher mit sich rumschleppt, dann wär ich die größte Leuchte weit und breit«, dachte Vic, als sie an einem heißen Sommertag die letzte Ladung die drei Treppen hochhievte.
Schweiß rann zwischen ihren Brüsten. Licht strömte in die Zimmer, deren Fenster hoffnungsvoll geöffnet waren, um jedes Lüftchen einzulassen. Der alte Küchentisch wankte leicht, als sie die schwere Kiste darauf ablud.
»Verdammt!«, schimpfte draußen eine Stimme.
Vic trat ans Küchenfenster, das auf einen gepflegten Hof hinausging. Ein schmaler Bach begrenzte die eine Seite des Geländes, eine dichte Reihe von Kiefern schirmte den Nachbarhof vor Blicken ab.
Vic lehnte sich aus dem Fenster und lauschte auf die Kampfund Wutlaute. Sie trabte die Treppe hinunter, sprang über den Bach und durchquerte die Kiefernreihe. Eine junge Frau, etwa ein Meter fünfundsechzig groß, blond, stand mit dem Rücken zu Vic und fluchte, was das Zeug hielt, während sie sich abmühte, eine alte Kommode von der Ladefläche eines ebenso alten Mercedes-Kombi zu zerren.
»Brauchst du Hilfe?« Vics tiefe Altstimme ließ die Frau erschrocken herumfahren.
»Gott, du hast mich zu Tode erschreckt!« Dem Tonfall nach stammte sie aus Pennsylvania.
»Entschuldigung.« Vic lächelte. »Ich bin deine Nachbarin. Vic Savedge. Komm, wir laden die Kommode ab, dann können wir sie zusammen rauftragen.«
»Ich bin Chris Carter.« Sie streckte die Hand aus.
Beide lächelten und gaben sich die Hand.
Dann zog Vic die Kommode mit einem einzigen Ruck herunter.
»Wie hast du das geschafft?«
»Mit Geduld. Du hast deine verloren«, erwiderte Vic scharfsinnig.
»Scheint so.« Dann fügte sie neckisch hinzu: »Hat dir schon mal jemand gesagt, daß du groß und stark bist?«
»Täglich. Und es bringt keinem was.« Vic lachte. »Aber bei dir mach ich ’ne Ausnahme, weil ich ja das Jahr über neben dir wohnen muß, und trag dir das Ding rauf.«
Chris mühte sich ab, die Kommode an einer Seite anzuheben. »Ein sperriges Monstrum.« Sie blinzelte, damit ihr der Schweiß nicht in die Augen lief.
»Stell’s ab«, befahl Vic.
»Warum?«
»Stell’s einfach ab«, wiederholte Vic. »Du gehst voran und hältst mir die Türen auf.«
»Du willst sie doch nicht etwa alleine raufschleppen?«
»Das ist leichter, als dich und das Möbel zu manövrieren.« Vic hievte sich die Kommode aus Vogelaugen-Ahorn auf den Rücken, beugte sich nach vorn und stieg die Hintertreppe von Haus Olsen hoch. Chris’ Apartment lag im obersten Stockwerk; Vics Apartment lag im obersten Stockwerk von Haus DeReuter. Oben am letzten Treppenabsatz setzte sie ihre Last erleichtert ab, atmete tief durch, hob sie dann wieder auf und steuerte auf das Schlafzimmer zu. Chris ging voraus und entschuldigte sich bei jedem Schritt. Vic stellte die Kommode an die Wand.
»So.«
»Danke. Echt, ich kann dir nicht genug danken.«
»Eine Cola wär nicht schlecht.« Vic wischte sich die Stirn ab, dabei spritzten Schweißtropfen von ihren Fingerspitzen.
Chris’ Küche war mit neueren Gerätschaften ausgestattet als Vics. Sie machte den Kühlschrank auf, holte eine Dose Coke heraus, nahm ein mit tanzenden Eisbären verziertes Glas, warf Eiswürfel hinein und goß die Cola darüber. Dann wiederholte sie die Prozedur für sich.
»Mit Eis schmeckt’s besser.«
Vic stürzte ihre Cola hinunter. »Stimmt.«
»Hier, du kannst noch eine vertragen.« Chris riß noch eine Dose auf und goß den Inhalt in Vics Glas. Ihre Augen trafen sich eine Sekunde lang. Vic hatte grüne Augen, ein dunkles, aufregendes Grün. Im Kontrast zu den schwarzen Haaren hatten ihre Augen beinahe etwas Hypnotisches. »Du hast unglaubliche Augen.«
Vic lachte. »Das liegt in der Familie. Genau wie die Größe – meine Mutter ist auch einsfünfundachtzig.« Dann musterte sie Chris. »Hm, du hast braune Augen und blonde Haare und bist zierlich. Bestimmt sagen dir alle, daß du hübsch bist, daß es eine schöne Kombination ist. Hörst du darauf?«
»Nie. Du?«
»Nein, ich will nicht für mein Aussehen bekannt sein, sondern für das, was ich tue.«
»Wären wir beide potthäßlich, würden wir wohl anders denken.«
Sie lachten, dann sagte Vic: »In welchem Jahr bist du?«
»Im vorletzten. Ich bin von der Vermonter Uni übergewechselt. Die Uni ist gut, aber ich wußte nicht, wie sehr ich die Kälte hasse, bis
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