Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
winkten ihnen fröhlich zu.
Da sie sich im letzten Wagen befand, erfreute sich Marie an einer Horde Kinder, die kreischend hinter ihnen herlief. Während einige Kinder von ihren Müttern zur Seite gezogen wurden, folgte ihnen der Kern der Rasselbande bis zum Marktplatz, wo sie haltmachten.
Angus Johnston ritt neben jeden Wagen und sprach kurz mit dem Wagenlenker und den Frauen. Schließlich erreichte er auch den letzten Wagen.
»Sie haben drei Stunden Zeit für einen Spaziergang oder was Sie sonst tun wollen. Spätestens wenn es fünf läutet, sollten Sie sich wieder bei den Wagen einfinden.«
»Bleiben wir heute Nacht in der Stadt?«, erkundigte sich Marie.
»Nein, wir werden die Nacht auf rollenden Wagen verbringen, damit wir die Zeit für den Aufenthalt hier wieder einholen.«
Johnston lächelte sie breit an, dann wendete er sein Pferd und ritt wieder nach vorn.
»Was war denn das?«, fragte Ella, die dem Treckchief durch die Staubwolke nachsah.
»Was meinst du?«, fragte Marie ein wenig abwesend.
»Das Lächeln. Er hat dich angelächelt, als hätte er seine Braut vor sich.«
»Das bildest du dir nur ein.« Um einem weiteren Gespräch aus dem Weg zu gehen, kletterte Marie vom Wagen herunter und strich Kleid und Frisur glatt. Dabei spürte sie noch immer die Blicke auf sich. Auf den hölzernen Sidewalks steckten ein paar Frauen die Köpfe zusammen. Männer in staubigen Hosen und groben Hemden lehnten neben den Hausecken und kauten auf Grashalmen herum, während sie sie beobachteten.
Es wird besser sein, wenn ich mit den anderen gehe, dachte Marie verunsichert, obwohl sie eigentlich vorgehabt hatte, die Stadt allein zu erkunden.
Zusammen mit Ella und zwei anderen Frauen vom vorherigen Wagen strebten sie der Main Street zu, die von zahlreichen Geschäften gesäumt wurde. Die schaulustige Menschenmenge hatte sich inzwischen zerstreut.
»Eine hübsche Stadt, findet ihr nicht?«, fragte Ella, die es sichtlich genoss, wieder in einer Stadt zu sein. »So ganz anders als die Städte bei uns zu Hause.«
Damit hatte sie recht, Dryden war wirklich ganz anders. Während in Deutschland Gebäude aus Stein vorherrschten, wurden die Straßen hier hauptsächlich von Holzhäusern gesäumt. Einige von ihnen waren mit prachtvollen Schnitzereien verziert, andere wiederum wirkten sehr schlicht. In den Vorgärten wucherten bunte Blumen; Hunde und Katzen schlichen um die Zäune.
Auch die Auslagen der Geschäfte waren ganz anders. In manchen Schaufenstern waren recht seltsame Dinge zu finden: Medikamente, von denen Marie noch nie etwas gehört hatte, außerdem seltsame Gewürze, Schlangengiftsalben und abenteuerlich anmutende Apparaturen.
»Wozu braucht man denn eine Kopfstütze für Langzeitreisende?«, wunderte sich Ella, als sie vor einem sogenannten Drugstore haltmachten, der ein seltsames Gebilde aus Seilen und Stoff als neueste Attraktion anpries.
»Damit du gemütlich bei der Reise schlafen kannst, ohne deinem Mitreisenden auf den Schoß zu fallen«, übersetzte Marie, was sie dem Prospekt zu Füßen der Vorrichtung entnahm.
»Hier gibt es auch Rosenwasser!«, rief eine ihrer Begleiterinnen begeistert aus, worauf sie und ihre Wagengenossin in dem Drugstore verschwanden.
»Irgendwas läuft zwischen euch«, bemerkte Ella, als das Läuten der Ladenglocke wieder verstummt war.
»Wovon redest du denn?« Um ihr Erröten zu verbergen, gab Marie vor, sich für die Auslage im Schaufenster zu interessieren.
»Du und dieser Johnston. Ihr versteht euch recht gut, nicht wahr?«
»Ich habe ihm angeboten, für ihn zu dolmetschen. Und er hat meine Sprachkünste bewundert. Nichts weiter.«
»Wirklich? Du merkst offenbar gar nicht, dass er dich mit Blicken regelrecht verschlingt.«
»Ich bin verlobt und habe keine Zeit, auf so etwas zu achten. Zumal es sich nicht gehört.«
»Du kannst es dir immer noch überlegen und mit ihm ziehen. Dein Reverend wird schon eine andere Frau finden.«
»Nein!«, fuhr Marie Ella heftiger an, als sie eigentlich wollte. »Ich bin eine Vereinbarung eingegangen und werde sie auch einhalten. Und Johnston hat doch sicher schon eine Frau, die auf ihn wartet. Wir unterhalten uns nur höflich, das ist alles.«
»Na gut, wie du meinst«, entgegnete Ella ein wenig verstimmt. »Wenn sich mir diese Möglichkeit bieten würde, würde ich sofort zugreifen. Der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach.«
Bevor Marie etwas dazu sagen konnte, stürmten ihre beiden Begleiterinnen lachend aus
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