Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
halbem Weg kam uns Luise entgegen, die sich schluchzend die Hand auf den Mund presste. Kreidebleich um Nase und Mund versuchte sie sich zu beherrschten, als sie uns sah.
»Geht nur in eure Kammer, es wird alles gut«, presste sie hervor, doch ich hörte kaum hin. Wie gebannt starrte ich die Blutschlieren auf ihrer Schürze an. Erst als Peter mich mit sich zur Treppe zog, löste ich mich davon und begriff, dass eine Geburt etwas Gefährliches war, das manchmal die Mutter und manchmal auch das Kind das Leben kostete.
5. Kapitel
Obwohl die Begegnung mit dem weißen Wolf schon zwei Tage zurücklag, ging sie Marie nicht aus dem Kopf. War das Tier ein Omen? Wenn ja, wofür? Während die Wagen weiter westwärts rumpelten, fragte sie sich, warum das Tier sie nicht angegriffen hatte. Wegen seiner Fellfarbe hatte der Wolf doch sicher Schwierigkeiten, an Beute zu kommen. Warum hatte er die Chance nicht genutzt? Weil Johnston in der Nähe gewesen war?
Zu gern hätte Marie den Treckchief gefragt, doch sie wagte nicht, ihm näher zu kommen. Seine Blicke, die er ihr zuwarf, sobald er Gelegenheit dazu hatte, verwirrten sie und ließen unbekannte Gefühle in ihrem Herzen erwachen. Du wirst dich doch wohl nicht in ihn verlieben!, schalt sie sich selbst, aber ihr Herz hörte nicht auf sie. Deshalb sorgte sie dafür, dass die wenigen unvermeidbaren Begegnungen kurz und distanziert ausfielen.
In den nächsten Tagen kamen sie gut voran. Die Stimmung unter den Frauen war noch immer gut, auch das Mädchen von Wagen zwei erholte sich wieder. Die Gerüchte um die Schwangerschaft blieben jedoch.
»Ihr könnt doch so was nicht einfach behaupten«, warf Marie ein, als sie zufällig mitbekam, dass sich die Frauen wieder das Maul zerrissen.
»Bist wohl eine Pastorentochter, dass du nicht weißt, wie die Welt läuft!«, schnarrte eine der Frauen sie an, die die anderen mit ihren offenherzigen Bemerkungen oftmals in Verlegenheit brachte.
Dass sie mit ihrer Vermutung, ihr Vater sei Pastor, richtig lag, brachte Marie zum Erröten. Natürlich hätte ihr Vater nicht geduldet, dass sie über solche Dinge Bescheid wusste. Erfahren hatte sie sie trotzdem, von den anderen Mädchen im Dorf. Die Angst vor dem Zorn ihres Vaters hatte sie allerdings stets davon abgehalten, das zuzugeben. Auch jetzt antwortete sie nur: »Ihr solltet dennoch nicht über eine Sache reden, bevor ihr nicht genau Bescheid wisst.«
Lisa schnaufte, als brauchte sie keine Gewissheit mehr; dann war das Gespräch beendet und alle kehrten in ihre Wagen zurück.
Nach ein paar Tagen wurde aber auch die vermeintlich Schwangere uninteressant, denn der Wagenzug näherte sich Dryden, das mitten in der Wildnis lag und das Ziel etlicher Glücksritter war.
Die Frauen gerieten in helle Aufregung, denn auch wenn sie nur wenige Mittel zur Verfügung hatten, wollten sie sich die Gelegenheit zum Stadtbummel doch nicht nehmen lassen.
»Ich bin schon sehr gespannt, was sie in den Läden anbieten«, sagte Ella begeistert zu Marie, die gerade ihre Haare zusammensteckte. Auch wenn ihre Kleider nicht mehr im besten Zustand waren, wollte sie doch einen guten Eindruck auf die Stadtbewohner machen.
»Aber wir haben doch kaum Geld«, gab sie zurück, während sie den Sitz ihrer Frisur in der halb blinden Spiegelscherbe überprüfte, die Ella gehörte.
»Na und?« Ella verschränkte die Hände vor der Brust. »Allein das Anschauen würde mir im Moment reichen. Bisher hatten wir nur uns, und ich bin neugierig, wie die Frauen dort herumlaufen, welche Kleider in Mode sind. Sobald wir unsere Männer haben, werden wir uns auch neue Kleider und andere Dinge leisten können.«
Marie war da nicht ganz sicher. Würden sie ihre frischgebackenen Ehemänner gleich mit Forderungen überhäufen können? Immerhin waren diese Männer für ihre Überfahrt und den Treck aufgekommen. Es würde sicher keinen guten Eindruck machen, wenn sie kurz nach der Ankunft schon Geld für irgendwelchen Tand verlangten.
Während sich alle halbwegs ordentlich herrichteten, tauchte die Stadt am Horizont auf. Froh darüber, nach Wochen in der Wildnis endlich wieder mit der Zivilisation in Berührung zu kommen, warfen die Begleitreiter ihre Hüte in die Luft und jubelten.
Als die Wagen die Hauptstraße hinaufrumpelten, blieben viele Passanten stehen und beäugten den Treck neugierig. Hin und wieder schlossen sich ein paar junge Burschen auf Pferden an, die einen Blick unter die Planen werfen wollten. Die weniger schüchternen Frauen
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