Das Lied der weißen Wölfin: Kanada-Roman (German Edition)
ihn dazu bringen konnten, seinen Job an den Nagel zu hängen und mit ihr durchzubrennen.
Als Peter alt genug war, um die Dorfschule zu besuchen, blieb ich traurig zurück. Unsere Mutter, noch immer bettlägerig nach der schweren Geburt, war keine besonders gute Gesellschaft, denn sie war meist in Gedanken und Trauer um unser tot geborenes Brüderchen versunken. Unser Vater wirkte in sich gekehrt. Was er tat, wenn er sich in seiner Studierstube einschloss, wusste niemand.
Ich verblieb die meiste Zeit in der Obhut unserer Haushälterin Luise, die mich auf einen Stuhl in der Küche setzte und dann ihrer Arbeit nachging. Stundenlang beobachtete ich sie oder blickte aus dem Fenster, bis Peter endlich zurückkehrte und wir beide in den Garten gingen.
Wenn mein Vater in der Küche auftauchte, würdigte er mich meist keines Blickes und fand auch keine Worte für mich. Kurz besprach er mit Luise, was sie für meine Mutter tun oder einkaufen sollte, dann verschwand er wieder. Ich flüchtete mich ins Reich der Märchen. Da ich beinahe alle Geschichten, die Luise mir erzählt hatte, auswendig konnte, versuchte ich mir vorzustellen, ein Teil von ihnen zu sein und in ihnen zu wandeln. Dabei verdrehten sich die ursprünglichen Geschichten manchmal auf seltsame Weise und wurden am Ende zu etwas ganz anderem.
Damit lenkte ich Peter so manches Mal von seinen Hausaufgaben ab, sozusagen als kleine Rache dafür, dass mir die Welt der Buchstaben noch verschlossen blieb. Wenn er dann doch darauf pochte, weitermachen zu müssen, beobachtete ich ihn bewundernd, wie er mit seinem Griffel Buchstaben und Wörter auf seine Schiefertafel kritzelte.
Abends, vor dem Zubettgehen, erzählte er mir manchmal von seiner Lehrerin fürs Schreiben und seinem Lehrer, der ihm Algebra beibrachte. Er stellte sie als Personen mit unendlichem Wissen dar, sodass ich es kaum erwarten konnte, ebenfalls zur Schule zu gehen. Allerdings war es fraglich, ob ich je dazu Gelegenheit haben würde.
Eines Nachmittags gelang es mir, unsichtbar zu werden. Jedenfalls glaubte ich das. Luise hatte mich in eine Ecke neben der Esse platziert, in der es warm genug war, ohne dass ich Gefahr lief, mich am Feuer zu verbrennen. Meine Fantasie hatte mich weit in mein Traumreich getragen, in dem ich gerade vom Feenkönig einen Mantel geschenkt bekommen hatte, der mich den Blicken der Menschen entzog.
Wieder einmal erschien mein Vater. Seine Beffchen lösend, ließ er sich am Küchentisch nieder. Mich hatte er in der Ecke offenbar nicht bemerkt. Erstaunt stellte ich fest, dass der Unsichtbarkeitsmantel wirkte.
»Was meinst du, Luise, soll ich Marie zur Schule schicken? Im nächsten Jahr wäre sie alt genug, doch sie ist ein Mädchen, und ist es nicht die Pflicht der Mädchen, zu heiraten und Kinder zu bekommen?«
Luise hielt den Kopf gesenkt, während sie weiter das Gemüse putzte. War sie überrascht über diese Frage oder glaubte sie, dass ihr eine Meinung nicht zustand?
Mein Vater langte über den Tisch und griff nach ihrem Handgelenk. »Luise«, sagte er sanft, beinahe flehentlich. »Du hast meine Tochter in deiner Obhut, und ich weiß wenig über die Erziehung eines Mädchens. Mein Weib ist mir, wie du weißt, keine Hilfe in diesen Dingen. Also, was soll ich tun?«
»Sie sollten sie schicken«, antwortete Luise, ohne den Blick von ihren Händen zu heben. »Niemandem nützt eine dumme Frau, Herr Pastor, und Sie wollen sie doch gut verheiraten.«
Mein Vater ließ sie wieder los, betrachtete sie dann aber lange. Luise setzte ihre Arbeit fort und tat, als würde sie es nicht bemerken, doch ich sah, dass sich auf dem Gesicht meines Vaters, das meist streng und hin und wieder abweisend wirkte, etwas veränderte. Seine Züge wurden weicher, sein Mund öffnete sich leicht, als wollte er etwas sagen.
In dem Augenblick kribbelte etwas in meiner Nase. Mein Niesen zerstörte den Mantel der Unsichtbarkeit und brachte meinen Vater dazu, sich mir zuzuwenden. Doch nun verschwand der weiche Ausdruck auf seinem Gesicht wieder, seine Miene verhärtete sich, als hätte ihn der Fluch einer Fee versteinern lassen.
»Marie, was hast du da zu suchen?«, donnerte seine Stimme beinahe schon wütend.
»Ich habe sie zum Spielen dorthin gesetzt«, verteidigte mich Luise, während sie das Gemüsemesser weglegte. »Sie ist ein sehr braves Mädchen, man hört den ganzen Tag über fast gar nichts von ihr.«
Aber mein Vater schien anderer Meinung zu sein. Schnaufend erhob er sich und verließ die
Weitere Kostenlose Bücher