Das Lied des Achill
wenn Achill Rache nähme, nicht einmal Menelaos.
»Du hast deine Machtbefugnisse bereits in dem Moment übertreten, als du sie hast herbringen lassen. Die Männer ließen dich gewähren, weil er zu stolz war. Das wird sich jedoch ändern, sobald du sie anrührst.« Wir gehorchen unseren Königen, aber nur aus guten Gründen und nicht blind. Wenn dem Aristos Achaion sein Kriegspreis nicht sicher ist, kann sich niemand seiner Beute sicher sein. Und ein König, der sie streitig macht, hat seine Macht verwirkt.
Das hat Agamemnon nicht bedacht. Allmählich aber dämmert es ihm. »Davon haben meine Ratgeber nichts gesagt«, erwidert er fast kleinlaut.
»Entweder sie wissen nichts von deinen Absichten oder sie verfolgen ihre eigenen Interessen.« Ich lasse ihm ein wenig Zeit, um darüber nachzudenken. »Wer wird nach dir herrschen?«
Er kennt die Antwort. Odysseus und Diomedes, beide zusammen, mit Menelaos als Repräsentationsfigur. Agamemnon begreift endlich, wie groß das Geschenk ist, dass ich ihm mache. Er ist schließlich nicht dumm.
»Du verrätst ihn, indem du mich warnst.«
So ist es. Achill will Agamemnon ins offene Messer laufen lassen, und ich bewahre ihn davor. »Ja«, erwidere ich im bitteren Tonfall.
»Warum?«, fragt er.
»Weil er im Unrecht ist.« Meine Kehle fühlt sich so rau an, als hätte ich Sand und Salz geschluckt.
Agamemnon geht in sich. Ich bin für meine Ehrlichkeit und Sanftmütigkeit bekannt. Es gibt keinen Grund, mir zu misstrauen. Er lächelt. »Du tust gut daran, ihn zu hintergehen, und erweist damit deinem wahren Herrn Treue und Ergebenheit.« Er genießt seine Worte, wie es scheint. »Weiß er, dass du zu mir gekommen bist?«
»Noch nicht«, antworte ich.
»Ah.« Mit halb geschlossenen Augen stellt er sich vor, wie Achill davon erfährt. Es bereitet ihm sichtliches Vergnügen, was er genüsslich auskostet. Was gibt es Schlimmeres, als von seinem engsten Vertrauten an seinen ärgsten Feind verraten zu werden?
»Wenn er kommt und auf Knien um Verzeihung bittet, lasse ich sie frei. Es ist einzig und allein sein eigener Stolz, der seiner Ehre schadet. Ich bin es nicht. Sag ihm das.«
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wende ich mich Brisëis zu. Ich durchschneide das Seil, das sie gefesselt hält. Ihr Blick lässt erkennen, dass sie weiß, was mich dieser Schritt gekostet hat. »Dein Handgelenk«, flüstert sie. Triumph und Verzweiflung erfüllen mich und ich bekomme kein Wort über die Lippen. Der sandige Zeltboden ist rot gefärbt von meinem Blut.
»Behandle sie gut«, sage ich.
Ich gehe und rede mir ein, dass sie nicht mehr in Gefahr ist. Er weidet sich jetzt an meinem Geschenk. Mit einem Fetzen aus meinem Gewand verbinde ich mir das Handgelenk. Mir wird schwindelig, und ich weiß nicht, ob es am Blutverlust liegt oder an dem, was ich getan habe. Auf schweren Beinen schleppe ich mich über den Strand zurück.
Er steht vor dem Zelt. Sein Leibrock ist noch feucht vom Knien im Wasser. Er wirkt müde.
»Wo warst du?«
»Im Lager.« Noch bin ich nicht bereit, ihm alles zu sagen. »Wie geht es deiner Mutter?«
»Gut. Du blutest.«
Der Verband ist durchnässt.
»Ich weiß«, entgegne ich.
»Lass sehen.« Ich folge ihm ins Zelt. Er nimmt meinen Arm und wickelt den Stofffetzen ab, spült die Wunde mit frischem Wasser und versorgt sie mit fein zerstoßener Schafgarbe und Honig.
»Ein Messer?«, fragt er.
»Ja.«
Uns beiden ist klar, dass ein Sturm heraufzieht. Wir zögern den Ausbruch von Blitz und Donner so lange wie möglich hinaus. Er verbindet die Wunde mit einem sauberen Tuch, gibt mir zu trinken und zu essen. Ich kann seiner Miene ablesen, dass ich krank und bleich aussehe.
»Wirst du mir sagen, wer dich verletzt hat?«
Mir liegt es geradezu auf der Zunge zu sagen »Du«, aber das wäre kindisch.
»Ich war es selbst.«
»Warum?«
»Um einem Schwur Nachdruck zu verleihen.« Es lässt sich nicht länger zurückhalten. Ich schaue ihm in die Augen. »Ich war bei Agamemnon und habe ihm von deinem Plan berichtet.«
»Von meinem Plan?« Er spricht ohne Anteilnahme, fast wie weggetreten.
»Dass du den Missbrauch an Brisëis in Kauf nimmst, um dich an ihm rächen zu können.« Der laut ausgesprochene Gedanke schockiert mich mehr als vermutet.
Er steht auf und wendet sich ab. Ich kann ihm nicht ins Gesicht blicken, sehe nur die Schultern und den angespannten Nacken.
»Du hast ihn gewarnt?«
»Ja.«
»Du weißt, ich hätte ihn töten können, wenn er sich an ihr
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