Das Lied des Achill
einreißen, die Leier zerschmettern und mir den Bauch aufschlitzen. Ich will, dass er mich verbluten sieht und an seiner Trauer und Reue zerbricht. Er hat sie Agamemnon überlassen, wohl wissend, was mit ihr geschieht.
Jetzt rechnet er damit, dass ich hier auf ihn warte, ohnmächtig und gehorsam. Ich habe Agamemnon nichts anzubieten im Austausch für ihre Sicherheit. Ich kann ihn nicht bestechen, ihn nicht anbetteln. Allzu lange hat der König von Mykene auf seinen Triumph warten müssen. Er wird sie nicht gehen lassen, sondern vielmehr über sie wachen wie ein Wolf über seine Beute. Am Pelion gab es solche Wölfe, die, wenn sie ausgehungert genug waren, selbst auf Menschen Jagd machten. »Wenn dich einer verfolgt«, riet Cheiron einst, »musst du ihm etwas hinwerfen, das er noch mehr will als dich.«
Es gibt nur eines, das Agamemnon von Brisëis fernhalten könnte. Ich ziehe mein Messer aus der Scheide am Gürtel. Mir bleibt nichts anderes übrig, obwohl sich alles in mir sträubt.
Die Wachen bemerken mich erst, als ihnen keine Zeit mehr bleibt, die Waffen zu heben. Einer erwischt mich beim Kragen, doch ich schlage ihm meine Fingernägel in den Arm, worauf er mich loslässt. Sie sind über mein Auftauchen verwundert und glotzen mich an. Bin ich nicht Achills Schoßhündchen? Wäre ich ein Krieger, würden sie mich zum Kampf stellen, aber das bin ich nicht. Und ehe sie mich aufhalten können, bin ich in Agamemnons Zelt verschwunden.
Sofort fällt mein Blick auf Brisëis. Sie hockt mit gefesselten Händen in einer Ecke. Agamemnon hat mir den Rücken zugekehrt und spricht mit ihr.
Er dreht sich um, verärgert über die Störung, grinst aber dann übers ganze Gesicht, als er mich erkennt. Er glaubt wahrscheinlich, Achill habe mich geschickt mit dem Auftrag, ihn um Gnade zu bitten. Vielleicht hofft er auch auf einen Wutanfall meinerseits, worüber er sich dann köstlich amüsieren würde.
Ich hebe die Klinge. Agamemnon reißt die Augen weit auf und greift zum eigenen Messer am Gürtel. Bevor er seine Wachen rufen kann, stoße ich die Klinge in mein linkes Handgelenk und muss ein zweites Mal zustechen, um die Ader zu finden. Doch dann spritzt Blut. Ich höre Brisëis vor Schreck nach Luft schnappen. Agamemnons Gesicht ist blutbesprenkelt.
»Was ich dir vorzutragen habe, ist von äußerster Wichtigkeit«, sage ich. »Und ich schwöre, bei meinem Blut, dass es die Wahrheit ist.«
Agamemnon ist entsetzt. Blut und Schwur halten ihn zurück. Er ist schon immer abergläubisch gewesen.
»Um was geht’s?«, fragt er, um Fassung bemüht. »Sprich!«
Ich spüre, wie mir das Blut aus dem Handgelenk sickert.
»Du bist in äußerster Gefahr«, sage ich.
Sein Gesicht verzieht sich zu einer Fratze. »Du willst mir drohen? Hat er dich deshalb zu mir geschickt?«
»Nein. Er hat mich nicht geschickt.«
Er zieht die Augenbrauen zusammen, und ich sehe, wie es in ihm arbeitet, wie sich Mosaiksteinchen zu einem Bild zusammenfügen. »Aber du kommst mit seinem Segen.«
»Nein«, erwidere ich.
Er hört mir jetzt aufmerksam zu.
»Er weiß, was du mit dem Mädchen vorhast«, sage ich.
Ich wage es nicht, Brisëis direkt anzuschauen, sehe aber aus den Augenwinkeln heraus, dass sie unserem Wortwechsel folgt. Mein Handgelenk durchzieht ein dumpfes Pochen, und ich spüre warmes Blut über die Hand rinnen und von den Fingern tropfen. Ich lasse das Messer fallen und presse den Daumen auf die Pulsader, um die Blutung zu stillen.
»Und?«
»Fragst du dich nicht, warum er nicht eingeschritten ist, als deine Boten das Mädchen geholt haben?« Meine Stimme war voller Verachtung für ihn. »Er hätte deine Männer im Handumdrehen töten können. Glaubst du wirklich, er ließe sich von dir einschüchtern?«
Agamemnons Gesicht läuft rot an. Aber er kommt nicht zu Wort, denn ich fahre fort, ohne zu zögern.
»Er hat zugelassen, dass du sie dir nimmst, obwohl er genau weiß, was du tun wirst. Und das wird dich zu Fall bringen. Sie gehört ihm dank seiner Kampfkraft. Wenn du ihr Gewalt antust, werden sich nicht nur die Soldaten gegen dich wenden, sondern auch die Götter.«
Ich spreche langsam und mit Bedacht, so dass ihn jedes Wort wie ein Pfeil treffen muss. Und es ist wahr, was ich sage, obwohl er so geblendet ist von Stolz und Verlangen, dass er es nicht wahrhaben will. Er hat Brisëis in Besitz genommen, aber sie ist und bleibt Achills Gewinn. Sie zu missbrauchen hieße, ihn in seiner Ehre zu verletzen. Niemand würde Klage erheben,
Weitere Kostenlose Bücher