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Das Lied des Achill

Das Lied des Achill

Titel: Das Lied des Achill Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeline Miller
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die sich einen Weg durch die Menge bahnten und auf ihre Zelte zuströmten.
    Mit kraftvollen Schritten eilte er über den Strand. Seine Wut war entflammt und brannte wie ein Feuer unter seiner Haut. Er stand so sehr unter Anspannung, dass ich es nicht wagte, ihn zu berühren, aus Angst, es könnte ihn wie eine Bogensehne zerreißen. Kein einziges Mal schaute er zurück, blieb auch nicht stehen, als das Lager erreicht war, sondern schleuderte den Einstieg unseres Zelts beiseite und verschwand darin.
    So hatte ich ihn noch nie gesehen. Sein Mund war grässlich verzerrt, die Augen funkelten wild. »Ich werde ihn töten«, zischte er, griff nach einem Speer und brach ihn entzwei, dass es krachte und Holzsplitter stoben.
    »Ich hätte ihn bereits eben niederstrecken sollen«, sagte er. »Was untersteht er sich?« Er trat gegen einen Krug, der darauf in tausend Stücke zersprang. »Diese Feiglinge! Ist dir aufgefallen, wie sie gebibbert haben und kein Wort zu sagen wagten? Es wäre besser, er würde deren Kriegsbeute beschlagnahmen und sich daran übernehmen.«
    »Achill?«, meldete sich eine zaghafte Stimme vor dem Zelt.
    »Komm herein«, knurrte er.
    Automedon war außer Atem und stammelte: »Ich will nicht stören. Aber Phoinix bat mich zu bleiben, um zu berichten, was sich zugetragen hat.«
    »Ich höre«, sagte Achill gereizt.
    Automedon zuckte zusammen. »Agamemnon fragte, warum H ektor noch lebt, und meinte, dass er dich nicht braucht. Das du womöglich gar nicht das bist, wofür du dich ausgibst.« Ein zweiter Speer zerbarst unter Achills Händen. Automedon schluckte. »Sie sind auf dem Weg hierher, um Brisëis zu holen.«
    Ich stand hinter Achill und konnte sein Gesicht nicht sehen. »Lass uns allein«, sagte er zu seinem Wagenlenker. Automedon zog sich zurück.
    Sie kamen, um Brisëis zu holen. Ich ballte meine Fäuste, fühlte mich stark und unerschütterlich. »Wir müssen etwas unternehmen«, sagte ich. »Wir könnten sie verstecken, im Wald oder –«
    »Er wird bezahlen, jetzt«, entgegnete Achill, wild triumphierend. »Soll er kommen. Er weiht sich dem Untergang.«
    »Was hast du vor?«
    »Ich muss mit meiner Mutter sprechen.« Er schickte sich an, das Zelt zu verlassen.
    Ich ergriff seinen Arm. »Wir dürfen keine Zeit verlieren. Bevor du zurück bist, werden sie sie geholt haben. Wir müssen jetzt etwas tun.«
    Er drehte sich um. Seine Augen machten mir Angst. Die Pupillen waren riesig und dunkel und schienen ins Unendliche gerichtet zu sein. »Wovon redest du?«
    Ich starrte ihn an. »Von Brisëis.«
    Er erwiderte meinen Blick, ließ aber keinerlei Regung erkennen. »Ich kann nichts für sie tun«, sagte er schließlich. »Wenn sich Agamemnon entschieden hat, muss er die Konsequenzen tragen.«
    Mir war, als würde ich, von Steinen beschwert, auf den Meeresgrund sinken.
    »Du wirst doch nicht zulassen, dass man sie fortschleppt?«
    Er wandte sich von mir ab. »Er will es nicht anders. Ich habe ihm die Folgen vor Augen geführt.«
    »Du weißt, was er ihr antun wird.«
    »Er will es nicht anders«, wiederholte er. »Soll er mich doch entehren und bestrafen.« Aus seinen Augen glomm ein inneres Feuer.
    »Du wirst ihr nicht helfen?«
    »Ich kann nichts für sie tun«, antwortete er in einem Tonfall, der keinen Einwand zuließ.
    Mir war zumute, als hätte ich zu viel Wein getrunken. Vor meinen Augen drehte sich alles, und die Zunge klebte mir am Gaumen. Ich war noch nie wütend auf ihn gewesen; ich wusste einfach nicht, wie.
    »Sie ist eine von uns. Du kannst doch nicht geschehen lassen, dass er sie mitnimmt und missbraucht. Wie verträgt sich das mit deiner Ehre?«
    Doch plötzlich verstand ich. Mir wurde schlecht. Ich hastete nach draußen.
    »Wohin gehst du?«, fragte er.
    »Ich muss sie warnen«, ächzte ich. »Sie hat ein Recht darauf zu erfahren, wie du dich entschieden hast.«
    Ihr Zelt steht ein wenig abseits. Es ist klein und mit dunklen Tierhäuten bespannt. »Brisëis«, höre ich mich rufen.
    »Tritt ein!« Ihre Stimme klingt herzlich und erfreut. Wir haben vor lauter Arbeit schon lange keine Gelegenheit mehr gehabt, ein persönliches Wort miteinander zu wechseln.
    Sie sitzt auf einem Schemel, hält einen Mörser auf dem Schoß und den Stößel in der Hand. In der Luft hängt der Duft von Muskat. Sie lächelt.
    Ich fühle mich leer und ausgelaugt. Wie soll ich ihr beibringen, was ich weiß?
    »Ich –« Sie sieht mein Gesicht, und ihr Lächeln gefriert. Schnell ist sie auf den Beinen und kommt auf

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