Das Lied des Achill
argwöhnisch ist. Ich weiß, er fürchtet, sich von den freundlichen Worten des Alten einwickeln zu lassen. Oder schlimmer noch: dass Phoinix gegen ihn Partei ergreifen und sich von ihm abwenden könnte.
Der Alte hebt eine Hand wie zur Abwehr solcher Gedanken. »Was immer du tust, ich werde dir beistehen. Aber bevor du dich entscheidest, will ich dir eine Geschichte erzählen.«
Er lässt Achill keine Zeit, Widerspruch einzulegen. »Zu Zeiten deines Vaters machte ein junger Held namens Meleager von sich reden, dessen Heimatstadt Kalydon von einem wilden Volk, den Kureten, belagert wurde.«
Ich kenne diese Geschichte aus Peleus’ Mund und erinnere mich, wie Achill mir zuschmunzelte, während sein Vater sie erzählte. Damals hatte Achill noch kein Blut an den Händen, und von der Weissagung seines frühen Todes ahnte niemand etwas.
»Anfangs konnten die Kureten dank der Kriegskunst des Meleagers zurückgeschlagen werden«, führt Phoinix aus. »Eines Tages tötete Meleager seinen Onkel, woraufhin seine Mutter ihn verfluchte. Im Zorn über seine Mutter weigerte er sich hinfort, für seine Stadt zu kämpfen. Das Volk machte ihm Geschenke und bat ihn um Verzeihung, doch er nahm davon nichts an, sondern legte sich stattdessen zu seiner Frau Kleopatra, um Trost bei ihr zu finden.«
Bei der Erwähnung ihres Namens funkeln Phoinix’ Augen, wie mir scheint.
»Als schließlich ihre Stadt den Feinden in die Hände zu fallen drohte und viele ihrer Freunde gestorben waren, hielt es Kleopatra nicht länger aus und flehte ihren Gatten an, den Kampf wieder aufzunehmen. Weil er sie über alles liebte, ließ er sich erweichen und erfocht einen großartigen Sieg für sein Volk. Zwar hatte er es gerettet, doch waren schon zu viele Leben seinem Stolz zum Opfer gefallen. Und so wurde ihm kein Dank zuteil, im Gegenteil, man verachtete ihn, weil er nicht früher eingegriffen hatte.«
In der Stille, die nun einsetzt, höre ich den Alten ächzend Luft einsaugen. Er hat sich mit seiner langen Rede verausgabt. Ich wage es nicht, ein Wort zu sagen oder mich zu rühren, und fürchte, dass man mir ansieht, was ich denke. Was Meleager letztlich umgestimmt hat, war nicht etwa die Aussicht auf Ruhm und Ehre, auch nicht die Sorge um Freunde oder um das eigene Leben. Es war vielmehr Kleopatra, die mit tränennassem Gesicht auf den Knien vor ihm kauerte. Mir ist klar, worauf Phoinix abzielt. Allein schon ihr Name legt den Vergleich nahe. Er ist meinem ähnlich, nur eine Umkehrung der Silben: Kleopatra, Patroklos.
Achill lässt sich nicht anmerken, ob auch er den tieferen Sinn versteht. Dem Alten zuliebe spricht er leise, bleibt aber bei seinem Nein. Nicht bevor Agamemnon meine Ehre wiederhergestellt hat . Odysseus scheint mit seiner Weigerung gerechnet zu haben. Ich kann mir vorstellen, wie er den anderen Bericht erstattet, die Arme zu einer Gebärde des Bedauerns ausbreitet und sagt: Ich habe es versucht . Würde Achill nachgeben, wäre alles gut. Doch eine Weigerung trotz all der angebotenen Geschenke und Entschuldigungen kann nur als krankhafte Trotzhaltung und Verblendung ausgelegt werden. Man wird ihn dafür verabscheuen, so wie man Meleager verabscheute.
Mir schnürt sich vor Angst die Kehle zu. Ich möchte auf die Knie fallen und ihn anflehen. Aber das tue ich nicht, denn wie Phoinix habe auch ich mich schon entschieden. Ich will mich nicht länger treiben lassen, ins Dunkle und darüber hinaus, auf einem Kurs, den allein Achill vorgibt.
Ajax reagiert sehr viel weniger gelassen als Odysseus. Er hat dessen Gleichmut nicht und macht aus seiner Wut kein Hehl. Es hat ihn viel gekostet, zu uns gekommen zu sein und sich als Bittsteller klein zu machen. Wenn Achill nicht kämpft, ist er der Aristos Achaion .
Ich erhebe mich mit den anderen und reiche Phoinix meinen Arm. Er ist sehr müde und kann sich kaum auf den Beinen halten. Ich helfe ihm zu seinem Lager, und als ich unser Zelt betrete, ist Achill bereits eingeschlafen.
Trauer und Enttäuschung übermannen mich, hatte ich doch gehofft, noch ein paar Worte mit ihm zu wechseln, in seinen Armen zu liegen und mich davon überzeugen zu können, dass es neben dem Achill, den ich beim Essen sah, noch einen anderen gibt. Ich lasse ihn träumen und schleiche nach draußen.
Ich kauere auf losem Sand im Schatten eines kleinen Zelts.
»Brisëis?«, rufe ich leise.
Es bleibt eine Weile still. Dann: »Patroklos?«
»Ja.«
Sie schlägt die Zeltplane auf und zieht mich hinein. Ihr ist anzusehen,
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