Das Lied des Achill
anderes«, sagt sie. »Versprich mir, dass du Troja nicht ohne mich verlässt, egal, was passiert. Ich weiß, du kannst mir nicht –« Sie unterbricht sich. »Ich würde lieber als Schwester an deiner Seite leben, als hier zurückzubleiben.«
»Daran muss ich mich nicht mit einem Versprechen binden«, entgegne ich. »Wenn du es willst, nehme ich dich gern mit. Sollte der Krieg tatsächlich morgen enden, wäre es mir unerträglich, dich nie wieder zu sehen.«
Sie lächelt wehmütig. »Das freut mich.« Ich behalte für mich, dass ich nicht daran glaube, Troja jemals zu verlassen.
Ich nehme sie in die Arme und drückte sie an mich. Sie legt ihren Kopf auf meine Schulter, und für einen Moment vergessen wir alle Gefahr und drohendes Unheil. Ich streichle ihre Wange und gebe mich ganz dem Wohlgefühl hin, das sich einstellt bei der Berührung ihrer weichen Haut und dem Lavendelduft ihrer Haare. Seufzend schmiegt sie sich an mich. So könnte, stelle ich mir vor, mein Leben sein. Wir könnten heiraten und ein Kind miteinander haben.
Wenn es Achill nicht gäbe, vielleicht.
»Es ist besser, ich gehe jetzt«, sage ich.
Sie schlägt die Decke beiseite, um mich aufstehen zu lassen, nimmt aber noch einmal meinen Kopf in ihre Hände und sagt: »Sei vorsichtig, bester aller Myrmidonen.« Bevor ich etwas einwenden kann, verschließt sie mit ihren Fingern meinen Mund. »Es ist so. Lass es gelten.« Dann führt sie mich zum Ausgang, hält die Zeltbahn auf und drückt mir zum Abschied die Hand.
In der Nacht liege ich neben Achill. Im Schlaf sieht er aus wie ein unschuldiger Knabe. Ich liebe diesen Anblick, der zum Ausdruck bringt, wie er von Grund auf ist: ernst und arglos, voller Mutwillen, aber ohne Tücke. Er ist der Hinterlist von Agamemnon und Odysseus, ihren Lügen und Machtspielen ausgeliefert. Sie haben ihn in Verwirrung gebracht, geködert und an sich gefesselt. Ich streichle seine Stirn. Wenn ich es könnte und er es zuließe, würde ich seine Fesseln lösen.
Neunundzwanzigstes Kapitel
G eschrei und Donnerschläge reißen uns aus dem Schlaf. Ein Unwetter scheint heraufgezogen zu sein. Es regnet nicht, doch durch den grauen, knisternden Dunst flackern Blitze, und es ist, als klatschten riesige Hände aufeinander, wenn sie einschlagen. Wir eilen nach draußen. Dunkler, beißender Rauch treibt vom Strand herbei und trägt den Gestank verbrannter Erde mit sich. Die Trojaner greifen an, und Zeus macht seine Drohung wahr, indem er ihnen mit seinen Blitzen himmlisches Geleit zukommen lässt. Wir spüren ein Beben im Boden, ausgelöst von Streitwagen, die wahrscheinlich der riesige Sarpedon anführt.
Achill ergreift meine Hand, verzieht aber keine Miene. Es ist das erste Mal seit Beginn des Krieges, dass die Trojaner so weit vorrücken und unser Lager bedrohen. Wenn sie unsere Palisaden durchbrechen, die Schiffe in Brand setzen und uns damit die Möglichkeit nehmen, nach Hause zurückzukehren, sind wir keine Streitmacht mehr, sondern Flüchtlinge. Was Achill und seine Mutter prophezeit haben, wird sich erfüllen. Die Griechen sind ohne ihn verloren. Der schlagende Beweis seines Werts wäre erbracht. Reicht es nicht jetzt? Wann wird er eingreifen?
»Nie«, antwortet er, als ich ihn frage. »Nicht bevor Agamemnon mich um Verzeihung bittet und wenn nicht Hektor selbst in mein Lager kommt und mich bedroht, was mir lieb wäre. Ich habe es geschworen.«
»Und wenn Agamemnon fällt?«
»Bring mir seinen Leichnam, und ich werde kämpfen.« Sein Gesicht ist wie aus Stein gemeißelt, dem Standbild eines finsteren Gottes gleich.
»Fürchtest du nicht die Verachtung der Männer?«
»Sie sollten Agamemnon hassen. Sein Stolz bringt Tod und Verderben.«
Wie der deine . Sein dunkler, harter Blick verrät, dass er nicht einlenken wird. In den achtzehn Jahren, die wir zusammenleben, hat er nie nachgegeben, sich stets durchgesetzt. Was wird geschehen, wenn er zum Nachgeben gezwungen wird? Ich habe Angst um ihn, um mich, um uns alle.
Wir ziehen uns an und essen. Achill spricht von der Zukunft, davon, dass wir morgen vielleicht schwimmen gehen, den harzigen Stamm einer Zypresse erklimmen oder nach jungen Meeresschildkröten suchen, die gerade jetzt im warmen Sand aus ihren Eiern schlüpfen. Ich höre ihn kaum. Meine Gedanken schweifen ab, hin zu den grauen Rauchschwaden, unter denen sich der Strand knochenbleich erstreckt, zu den fernen Schreien sterbender Männer, die ich kenne. Wie viele wird der Tod ereilt haben, wenn der Tag zu
Weitere Kostenlose Bücher