Das Lied des Achill
Ende ist?
Ich sehe ihn aufs Meer hinausstarren. Es ist ungewöhnlich still, als hätte Thetis die Luft angehalten. Seine Augen sind dunkel, die Pupillen geweitet vom trüben Licht des Morgens. Eine Strähne fällt ihm in die Stirn, einer züngelnden Flamme gleich.
»Wer ist das?«, fragt er plötzlich. Unten am Strand wird jemand auf einer Trage zum weißen Zelt gebracht, offenbar jemand von Bedeutung, denn es scharen sich viele Männer um ihn.
Ich ergreife die Gelegenheit, mich auf anderes zu besinnen. »Ich werde nachsehen.«
Jenseits der Palisaden schwillt der Schlachtenlärm an. Pferde wiehern, Kommandanten brüllen, Metall prallt klirrend aufeinander.
Podaleirios stürmt an mir vorbei aufs weiße Zelt zu. In der stickigen Luft hängt der Geruch von Kräutern und Blut, Angst und Schweiß. Nestor ist plötzlich neben mir und legt mir seine Hand auf die Schulter, die so kalt ist, dass ich vor Schreck zusammenfahre. Er brüllt: »Wir sind verloren! Der Wall bricht!«
Hinter ihm liegt Machaon keuchend auf einer Trage. Ein abgebrochener Pfeil steckt in seinem blutüberströmten Schenkel. Podaleirios beugt sich über ihn.
Machaon sieht mich. »Patroklos«, ächzt er.
Ich gehe zu ihm. »Ist es schlimm?«
»Weiß nicht. Ich glaube –« Er stockt und kneift die Augen zu.
»Sprich ihn nicht an«, zischt Podaleirios. Seine Hände sind rot vom Blut des Bruders.
Nestor meldet lautstark eine Schreckensnachricht nach der anderen: Die Palisaden brechen, die Schiffe sind in Gefahr und viele Könige liegen verwundet am Boden, Diomedes, Agamemnon und Odysseus.
Machaon schlägt die Augen auf. »Kannst du nicht mit Achill reden?«, krächzt er. »Bitte, tu’s für uns.«
»Ja! Phthia muss uns helfen. Sonst sind wir verloren.« Nestor krallt mir die Finger ins Fleisch.
Ich schließe die Augen und erinnere mich an Phoinix’ Geschichte, an das Bild der vor Kleopatra knienden Kalydoner, die bittere Tränen weinen. In meiner Vorstellung schaut sie die Bittsteller nicht an, sie reicht ihnen nur ihre Hände, als wären es Tücher, mit denen sie ihre Augen trocknen könnten. Sie wirft einen Blick auf ihren Gatten Meleager, dessen verschlossene Lippen sagen, was sie wissen muss: »Nein.«
Ich reiße mich von Phoinix los und will dem sauren Gestank der Angst entfliehen, der sich wie Staub auf alles legt. Ich sehe Machaons schmerzverzerrtes Gesicht, seine bittend ausgestreckten Arme und verlasse Hals über Kopf das Zelt.
Draußen wird ein schreckliches Bersten laut. Es klingt, als stürzten riesige Bäume zu Boden. Der Palisadenwall. Schreie folgen, triumphierende und entsetzte zugleich.
Überall um mich herum werden gefallene Krieger fortgetragen, Männer schleppen sich auf provisorischen Krücken vorbei oder kriechen durch den Sand, zerschmetterte Glieder hinter sich herziehend. Ich erkenne sie alle, ich habe ihre Wunden versorgt, ihnen Verbände angelegt, während sie mit schmerzverzerrten Gesichtern auf der Trage lagen. Jetzt liegen sie wieder in ihrem Blut. Wegen ihm. Wegen mir.
Vor mir schwankt ein junger Mann, dem ein Pfeil das Bein durchschlagen hat. Eurypylos, Prinz von Thessalien.
Ich zögere nicht lange, lege seinen Arm über meine Schulter und helfe ihm ins Zelt. Er ist außer sich vor Schmerzen, erkennt mich aber. »Patroklos«, ächzt er.
Ich knie vor ihm nieder und untersuche die Wunde. »Eurypylos, kannst du sprechen?«, frage ich.
»Dieser Hurensohn Paris«, stammelt er. »Mein Bein.« Der Muskel ist zerfetzt und geschwollen. Ich greife nach meinem Dolch und mache mich ans Werk.
Er knirscht mit den Zähnen. »Ich weiß nicht, wen ich mehr hassen soll, die Trojaner oder Achill. Sarpedon hat die Palisaden mit bloßen Händen eingerissen, und Ajax konnte es nicht verhindern. Sie sind nun hier«, sagt er keuchend. »Im Lager.«
Ich will Reißaus nehmen, zwinge mich aber zu bleiben und richte all meine Aufmerksamkeit darauf, die Pfeilspitze aus dem Bein zu ziehen und die Wunde zu verbinden.
»Beeil dich«, sagt er mit schleppender Stimme. »Ich muss zurück. Sie setzen sonst unsere Schiffe in Brand.«
»Du kannst jetzt nicht zurück«, entgegne ich. »Du hast zu viel Blut verloren.«
»Nein.« Er lässt den Kopf in den Nacken zurückfallen und verliert die Besinnung. Ob er am Leben bleibt oder nicht, entscheiden die Götter. Mehr kann ich nicht für ihn tun. Ich hole tief Luft und trete aus dem Zelt ins Freie.
Zwei Schiffe stehen in Flammen, in Brand gesetzt von trojanischen Fackeln. Männer hasten
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