Das Lied des Achill
die Asche des Gefährten mit seiner vermengt und eins wird. Damit wollte er also auch das Gedenken an ihn bewahrt wissen.« Zum ersten Mal freue ich mich über seine Cleverness.
»Ich bin sein Sohn. Ich entscheide, was sein Geist wünscht.«
»Eben aus diesem Grunde bin ich gekommen. Ich selbst habe nichts zu verlieren, bin ein ehrlicher Mann, der Wert darauf legt, das Recht geschieht.«
»Hältst du für rechtens, dass der Ruhm meines Vaters um eines Sklaven willen geschmälert wird?«
»Patroklos war kein Sklave. Als Prinz geboren, wurde er in die Verbannung geschickt. Er hat unserem Heer tapfer gedient, und viele bewunderten ihn. Durch seine Hand fiel Sarpedon, der nach Hektor stärkste Krieger Trojas.«
»In meines Vaters Rüstung. Dank seines Ruhms.«
Odysseus neigt den Kopf zur Seite. »Zugegeben. Aber Ruhm ist etwas Sonderbares. Manche erringen ihn erst nach ihrem Tod, und bei vielen verblasst er schon zu Lebzeiten. Was die eine Generation bewundert, verabscheut mitunter die nächste.« Er breitet seine großen Hände aus. »Niemand weiß, wer den Vernichtungsfeldzug der Erinnerung überlebt.« Er lächelt. »Vielleicht werde ich eines Tages berühmt sein, womöglich berühmter als du.«
»Das bezweifle ich.«
Odysseus zuckt mit den Achseln. »Wir können es nicht vorhersehen, denn wir sind nur Menschen und unser Leben ein kurzes Aufflackern. Die uns nachfolgen, werden uns nach Belieben erhöhen oder herabsetzen. Patroklos könnte denen angehören, die später hoch geachtet werden.«
»Nie und nimmer.«
»Es wäre zumindest eine gute Tat, fromm und großherzig, eine Ehrung deines Vaters und eine Gefälligkeit gegenüber einem Toten, der ein Recht auf Ruhe hat.«
»Er ist eine Schande für meinen Vater und für mich. Nimm deinen sauren Wein und geh!« Seine Worte klingen wie brechendes Holz.
Odysseus steht auf, rührt sich aber nicht vom Fleck. »Hast du eine Frau?«, fragt er.
»Natürlich nicht.«
»Ich habe meine Frau seit zehn Jahren nicht gesehen und weiß nicht, ob ich sie jemals lebend wiedersehen werde.«
Ich dachte immer, das mit seiner Frau sei ein Scherz, eine frei erfundene Geschichte. Aber er spricht jetzt langsam, mit milder Stimme und es scheint, als würde er jedes Wort aus großer Tiefe hervorbringen müssen.
»Ich tröste mich damit, dass wir spätestens in der Unterwelt wieder zusammentreffen. Dass wir uns, wenn nicht zu Lebzeiten, immerhin dort wiedersehen. Ohne sie will ich nicht sein.«
»Mein Vater hatte keine solche Frau«, sagt Pyrrhos.
Odysseus betrachtet die unergründliche Miene des jungen Mannes. »Ich habe mein Möglichstes getan«, sagt er. »Dass ich es versucht habe, möge in Erinnerung bleiben.«
Ich bin ihm dankbar.
Die Griechen segeln davon und nehmen meine Hoffnung mit sich. Ich kann ihnen nicht folgen, denn ich bin gebunden an diesen Ort, der meine Asche birgt unter dem aus Stein gehauenen Obelisken seines Grabmals. Ich weiß nicht, ob er sich kalt oder warm anfühlt, wenn man die Hand darauf legt. ACHILL steht darauf geschrieben. Er ist in die Unterwelt gefahren, ich bleibe hier zurück.
Menschen besuchen sein Grab. Manche halten Abstand, als fürchteten sie, sein Geist könnte daraus hervorspringen und sie zum Kampf herausfordern. Andere treten näher heran, um die Szenen aus seinem Leben zu betrachten, die auf die Schnelle, aber klar erkennbar in den Stein gemeißelt wurden: wie er Memnon tötet, Hektor, Penthesilea. Nichts als Mord und Totschlag. Ähnliche Bilder werden Pyrrhos’ Grabmal schmücken. Wird er damit in Erinnerung bleiben?
Thetis kommt. Wo sie geht und steht, verdorrt das Gras unter ihren Füßen. Ich empfinde Hass wie schon lange nicht mehr. Sie schuf Pyrrhos und liebt ihn mehr als Achill.
Sie schaut sich die Reliefs auf dem Grabstein an, Mordszene um Mordszene, und streckt die Hand aus, um sie zu berühren. Ich kann es nicht ertragen.
Thetis , sage ich.
Ihre Hand schreckt zurück. Sie verschwindet.
Später kommt sie wieder. Thetis . Sie reagiert nicht, steht nur stumm da und betrachtet das Grabmal ihres Sohnes.
Auch ich liege hier begraben. In Achills Urne.
Sie rührt sich nicht. Sie hört mich nicht.
Jeden Tag kommt sie. Sie setzt sich vor den Stein, und mir ist, als spürte ich ihre Kälte durch das Erdreich bis zu mir herabdringen. Ich vermag es nicht, sie zu vertreiben, aber ich kann sie hassen.
Du bezichtigst Cheiron, ihn verdorben zu haben. Aber das ist nicht wahr. Wenn ihn einer verdorben hat, dann warst du es
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