Das Lied des Kolibris
Fragen löchern. Sie würden wissen wollen, wie sie in den Besitz einer solchen Geldsumme gekommen sei. Sie würden sie darüber ausquetschen, ob sie Kenntnisse über den Aufenthaltsort zweier Ausreißer habe und ihnen dieses Wissen vorenthalte. Sie würden keine Ruhe geben, bis Eulália ihnen alles offenbart hätte. Denn was von Vorteil war, wenn man ihr Geld anvertraute, würde sich bei einem derartigen Verhör nachteilig auswirken: Eulália war einfach zu ehrlich.
Oder war es zumindest gewesen. Vielleicht hatte das Leben sie inzwischen gelehrt, dass man hier und da auch zu einer Lüge greifen musste, wenn man nicht auf der Strecke bleiben wollte. Immerhin war es ihr gelungen, Zé und Lua nicht zu verraten. Es musste sie große Willenskraft gekostet haben, nichts auszuplaudern, und sei es nur aus Trotz. Lua malte sich aus, wie ihre einstige Herrin in der schönen Casa Grande von Três Marias ihr einsames Dasein fristete und auf Rache sann – um diese dann, als sie sie in Form von Luas heimlicher Versorgung indirekt genommen hatte, nicht einmal öffentlich auskosten zu dürfen. Umso mehr, so konnte Lua sich vorstellen, würde Eulália ihren Triumph genießen, wenn sie plötzlich mit einem Vermögen aufwarten konnte, von dem niemand etwas geahnt hatte, sowie dem verbotenen Wissen um den Aufenthaltsort der geflohenen Sklavin. Ja, es würde ihr gelingen – und sie würde Spaß daran haben. Lua freute sich schon auf Eulálias Gesicht, wenn sie ihr den Plan unterbreiten würde.
Ihre Vorfreude wurde allerdings durch Zés Abfuhr ein wenig getrübt. Sie erzählte ihm, was Kasinda ausgeheckt hatte, und bemerkte, dass seine Augenbrauen sich immer mehr zusammenzogen.
»Das ist nicht dein Ernst!«, rief er schließlich aus.
»Doch, ist es. Und der deiner hochgeschätzten Kasinda ebenfalls. Wage es also nicht, mich wieder der Torheit und mangelnden Weitsicht zu bezichtigen.«
»Aber du weißt doch, wie die Weißen sind. Selbst diejenigen unter ihnen, die einen gutherzigen Eindruck machen, entpuppen sich früher oder später als herrische Sklaventreiber.«
»Hast du eine bessere Idee, wie wir diesem verfluchten Gefängnis entkommen?« Den Strand mit seinem endlosen Horizont als Gefängnis zu bezeichnen, war vielleicht ein schlechter Vergleich. Aber mittlerweile bedrückte Lua die Weite des Himmels mehr, als es die Enge in der Senzala je getan hatte, und die vollkommene Abwesenheit von menschlichen Geräuschen machte sie wahnsinniger als das dauernde, emsige Gesumme auf dem Gutshof.
»Ja«, sagte Zé, »ich habe eine bessere Idee. Ich finde, wir sollten mit dem Geld alles anschaffen, was uns das Leben und Überleben in Liberdade erleichtern würde. Vielleicht wärest du ja bereit, dich abermals auf unser Quilombo einzulassen, wenn wir dort nur weiche Kissen oder duftende Essenzen hätten.«
Sie war versucht, ihm eine Ohrfeige zu geben. Wie konnte er sie nur immer noch so falsch einschätzen, nach allem, was sie gemeinsam durchlebt hatten? Er würde sie wahrscheinlich ewig für eine verweichlichte Haussklavin mit einem Faible für nutzlosen Zierat halten.
Er bemerkte ihren Zorn und entschuldigte sich. »Verzeih, Lua. Das war billig.«
Sie nickte gnädig. Doch ihre Erwiderung war dafür umso ungnädiger: »Das Geld fließt nicht nach Liberdade.«
»Aber …«
»Lass mich ausreden. Das Geld gehört Kasinda. Sie wünscht, dass wir es ihren Angehörigen zukommen lassen. Unsere Freiheit soll nur der Lohn für die Erfüllung dieser Aufgabe sein. Alles andere wäre Diebstahl.«
»Und wenn …«
»Warte, Zé, ich bin noch nicht fertig. Ich weiß, wie sehr dir Liberdade am Herzen liegt. Glaubst du denn nicht, dass es deinen Leuten dort viel mehr helfen würde, wenn du frei wärst? Ich meine, wirklich frei, auch vor dem Gesetz? Du könntest nach Belieben reisen oder Handel treiben. Du könntest sie unterstützen, indem du verkaufst, was sie hergestellt haben. Davon hätten sie langfristig viel mehr als von all den Dingen, die du von Kasindas Schatz würdest anschaffen können.«
»Wie soll das gehen, wenn wir in Rio de Janeiro sind?«
»Wir müssen doch dort nicht für immer bleiben.«
»Ich weiß nicht«, sagte er kopfschüttelnd, »mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, meine Leute da draußen einfach so im Stich zu lassen.«
»Sie kommen auch ohne dich aus, glaub mir.«
»Das bezweifle ich.«
»Dann werden sie es eben lernen – so wie du lernen musst, dass du nicht alle Weisheit für dich gepachtet hast. Man muss
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