Das Lied des Kolibris
den zahlreichen Besuchen der Senhora auf Três Marias.
»Habt ihr hier einen Betinho? Einen Viehtreiber?«, fragte er.
»Beto? Sicher. Der ist drüben im Kuhstall, denn eine der Kühe kalbt, und er hat ein Händchen für solche Dinge. Ist ihm noch nie ein Kälbchen verlorengegangen.«
»Das sein Betinho!«, rief ich, außer mir vor Freude. Wenn einer mit Tieren umgehen konnte, dann mein kleiner Uanhenga.
Der Stallknecht bedachte mich mit einem skeptischen Blick. Er wies uns den Weg, kam jedoch nicht mit.
José begleitete mich. Ich war ihm dafür dankbar, denn meine Knie zitterten, und er gab mir Halt, geistigen wie körperlichen. Er hielt mir seinen Arm so hin, dass ich mich unterhaken konnte, und so schritten wir feierlich einher, als seien wir auf dem Weg zu unserer Trauung und nicht in den Kuhstall.
»Jemand da?«, rief José.
Aus einem entfernten Winkel kam es zurück: »Ja, gleich. Ich kann hier jetzt nicht weg.«
Wir warteten. Wenn ich eines nicht wollte, dann meinen Sohn durch mein unerwartetes Auftauchen in eine brenzlige Situation bringen. Was, wenn ihm das Kälbchen unter den Fingern starb, nur weil er im entscheidenden Augenblick abgelenkt war? Man hörte weitere Stimmen aus der Ecke, hektisches Rufen, lautes Muhen – und schließlich Beifall und Jubel. Allem Anschein nach war die Geburt gut verlaufen.
In banger Erwartung standen José und ich an der Stalltür und merkten gar nicht, dass wir uns bei den Händen hielten. Schließlich kam ein Bursche auf uns zu, dessen Gesicht man im Halbdunkel nicht gut erkennen konnte. Aber die Art und Weise, wie er sich bewegte, sowie seine Statur verrieten mir gleich, dass es mein Sohn war.
»Was gibt’s denn?«, fragte er, als er auf uns zukam. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, wer da vor ihm stand.
»Mãe?«, fragte er ungläubig.
»Uanhenga«, flüsterte ich, überwältigt von meinem Glücksgefühl, ihn so gutgelaunt und offensichtlich in bester Verfassung vor mir zu sehen.
Wir machten gleichzeitig einen Schritt nach vorn und fielen uns in die Arme. Er war zwei Köpfe größer als ich, und er fühlte sich an, als bestünde er nur aus Muskeln, obwohl er noch immer schlaksig wirkte.
»Mãezinha, Himmelherrgott noch mal, wie kannst du mir so einen Schrecken einjagen? Ich habe zuerst gedacht, mir sei ein Geist erschienen.«
Ich lachte und weinte zugleich. Es war so wunderbar, nach der langen Zeit endlich wieder mit meinem Sohn vereint zu sein.
»Geht es dir gut? Lass dich mal genauer anschauen«, sagte er und löste sich aus meiner Umarmung. Er musterte mich von Kopf bis Fuß, und ich tat dasselbe umgekehrt. Seine Kleidung war schmutzig, Blut bedeckte seine Arme bis zu den Ellbogen – aber sein Gesicht glühte förmlich von seinem Strahlen.
»Du siehst gut aus«, bemerkte er nach einer Weile. Und dann, in einem neuerlichen Ansturm der Überraschung: »Ich fasse es nicht! Gleich zwei so wunderbare Ereignisse an einem Tag, das muss mein Glückstag sein!«
»Dass du das Wiedersehen mit deiner Mutter und die Geburt eines Kalbs auf eine Stufe stellst, ist aber nicht gerade nett«, mischte sich plötzlich José ein, der sich bis dahin im Hintergrund gehalten hatte. Er sagte genau das, was ich gedacht hatte, aber ich hätte es natürlich niemals ausgesprochen.
»Und wer ist er?«, fragte mein Sohn.
»Ein Freund«, antwortete ich. »José.«
»Wo ist Vater?«, begehrte Uanhenga jetzt zu wissen, doch meine schlagartig sich verdüsternde Miene sagte ihm alles, was er wissen musste.
Wir fielen einander wieder in die Arme, diesmal vereint in der Trauer um Muhongo. Mein Herz schlug heftig, dieses Auf und Ab meiner Gefühle nahm mich sehr mit. Große Trauer und immense Freude zugleich zu verspüren, in einem Atemzug zu lachen und zu weinen, das war etwas, dem mein Körper nicht mehr standhalten konnte. Meine Beine wurden wacklig, und es war José, der es rechtzeitig bemerkte: »Hol deiner Mutter einen Schemel. Und ein Glas Wasser«, befahl er meinem Sohn, der sich unverzüglich daranmachte, den Befehl auszuführen.
Später, als der Trubel wegen des neugeborenen Kalbs nachgelassen und Uanhenga sich gewaschen hatte, setzten wir uns vor seine Hütte und tauschten Neuigkeiten aus – wenn man denn bei Dingen, die sich schon vor 15 Jahren zugetragen hatten, von Neuigkeiten sprechen konnte. Uanhenga hatte aufgrund seiner hohen Wertschätzung, die er bei seinen Senhores genoss, eine eigene Hütte zugewiesen bekommen, die er mit seiner schwangeren Frau
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