Das Lied des Kolibris
eingebüßt.«
Die Sinhazinha riss aufgeregt die Augen auf. »Du meinst, man hat ihr den Finger abgeschnitten, weil sie gestohlen hatte?« Sie wirkte weniger erschrocken über diese Information als vielmehr fasziniert von der grauenvollen Bestrafung.
»Nein«, erwiderte Lua, »man hat ihn ihr abgetrennt, obwohl sie nicht gestohlen hatte.«
»Das ist ja furchtbar!«
»Ja.«
»Ihr wollt mir also Imaculadas Gold und Schmuck anvertrauen, um euch freizukaufen?«
»So ist es, Sinhazinha.«
»Traut ihr mir denn? Also, dein Zé, der denkt doch bestimmt, ich würde den Goldschatz einfach an mich nehmen und behalten wollen. Ist es nicht so?«
Lua staunte über diese Menschenkenntnis. »Ja, so ähnlich. Aber ich traue Euch, Sinhazinha. Und ich habe Zé davon überzeugen können, dass Ihr unsere einzige Chance seid.«
»Und du bist dir sicher, dass Imaculadas Schatz auch wirklich existiert? Und dass es sich nicht nur um wertlosen Blechschmuck handelt?«
»Ja. Wollt Ihr ihn sehen?«
»Er ist hier?!«
»Kasinda, das heißt, Imaculada, ist sich ihrer Sache sehr sicher. Sie ist überzeugt davon, dass Ihr mitmachen werdet – und hat mir ihren Schatz wohlweislich dagelassen.« Lua fummelte am Saum ihres Rockes herum, an dem sie das Ledersäckchen befestigt hatte. Dann präsentierte sie der Sinhazinha den Inhalt auf die gleiche Weise, wie Kasinda es zuvor bei ihr getan hatte: Sie kippte den Beutel auf ihrem Schoß aus. Lua wusste um den Effekt, den der Kontrast zwischen den kostbaren Stücken und ihrem fadenscheinigen Rock erzielen würde.
Eulália sprang aufgeregt auf und glotzte auf Luas Schoß. Ihr Mund war vor Erstaunen halb offen. Anscheinend hatte es ihr die Sprache verschlagen, denn sie brachte kein Wort heraus. Dabei hatte Lua ihr nicht einmal alle Preziosen gezeigt, sondern, wie Kasinda es vorgeschlagen hatte, nur einen Teil davon.
Auch Lua schwieg. Gemeinsam betrachteten sie das Vermögen und hingen ihren Gedanken nach. Lua schätzte, dass der Sinhazinha etwas ganz Ähnliches durch den Kopf ging wie ihr, nämlich die traurige Erkenntnis, dass Geld allein nicht glücklich machte. Kasinda hatte Geld gehabt – und sich rein gar nichts davon kaufen können, was ihr wichtig gewesen wäre.
»Ich mache es«, platzte Eulália unvermittelt heraus. »Ich helfe euch. Ich kenne einen vertrauenswürdigen Pfandleiher in Salvador, der mir einen halbwegs korrekten Preis zahlen wird. Und der Erlös dürfte reichen, um euch zwei freizukaufen. Euch drei. Aber deine Schwangerschaft verheimlichen wir lieber, wir wollen ja deinen Preis nicht in die Höhe treiben.« Verschmitzt zwinkerte sie Lua zu.
»Dddas ist … danke!«, stammelte Lua.
»Wünsch mir Glück. Ich sehe da noch einige Hürden, die zu nehmen sind. Wie soll ich zum Beispiel erklären, wie ich zu dem plötzlichen Reichtum gekommen bin? Und wie … ach was!«, unterbrach sie sich selbst. »Das bekomme ich schon hin.« Man sah ihr an, dass sie sich freute, so wie ein Kind sich freut, wenn es einen guten Streich ausgeheckt hat.
»Viel Glück, Sinhazinha!«
Einen winzigen Moment lang war Eulália versucht gewesen, Lua zum Abschied zu umarmen, das hatte diese gespürt. Und Lua war es genauso gegangen. Doch schließlich überwog ihre Erziehung – fast 20 gemeinsame Jahre als Herrin und Sklavin ließen sich nicht so leicht abtun.
Lua sah Eulália nach, wie sie beschwingt fortging.
Als Zé aus seinem Versteck kam, unkte er: »Die sehen wir nie wieder.«
Lua schüttelte den Kopf über so viel Pessimismus. Dann ging sie zu ihrem Lager, setzte sich unter eine Palme und schloss die Augen.
Die Würfel waren gefallen.
Jetzt konnten sie nur noch warten.
47
A ls Zé eines Tages von einem seiner Ausflüge zurückkehrte, wie immer schwer bepackt mit Lebensmitteln, wusste er eine beunruhigende Neuigkeit zu berichten. Kasinda sei verschwunden. Schon seit Tagen, so habe der verzweifelte José geklagt, sei die Alte nicht auffindbar gewesen, alle Versuche, sie aufzustöbern, seien gescheitert. Da sie so alt war und für ihren Besitzer ohnehin keinen Wert mehr besaß, hatte man allerdings keine ausgedehnte Suche in die Wege geleitet. In Wahrheit, so vermutete Zé, und Lua stimmte ihm darin zu, war Dom Felipe sogar erleichtert: ein Maul weniger zu füttern. Dass sie geflohen sein könnte, schlossen sie aus. Sie hätte ihnen ja kaum ihr Vermögen anvertraut, wenn sie vorgehabt hätte, sich selbst auf die Suche nach ihrer Familie zu machen. Nein, Kasinda hatte sich zum Sterben
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