Das Lied des Kolibris
denn sie war stark und gesund.
Die Männer brachten mich in eine Art Lager, wo sie bereits andere Gefangene gesammelt hatten. Dieses Lager war gut bewacht, unsere Häscher waren bis an die Zähne bewaffnet, und wir Gefangenen waren gefesselt. So gelang es nicht einmal den stärksten und mutigsten Männern, sich aus der Gewalt der Sklavenjäger zu befreien. Es herrschte ein großes Elend unter uns Gefangenen. Den einzigen Trost fand ich in der Tatsache, dass sich dort niemand sonst aus meiner Familie befand. Uanhenga würde eine neue Frau finden, unsere Kinder wären bei meiner Mutter in besten Händen. Einzig meine kleine Tochter war bei mir, ein Säugling noch, der ohne Mutter ohnehin keine Überlebenschance gehabt hätte. Ich würde sie mitnehmen müssen, wenn man mich ließ. Ich war beileibe nicht die einzige Mutter mit Kind dort. Bisher hatte jedoch keiner unserer Aufseher Anstalten gemacht, den Frauen ihre Kinder fortzunehmen.
Zuweilen fragte ich mich, ob es für die Kleine nicht besser sei, wenn ich sie tötete und der heimischen Erde überantwortete, so dass die Ahnen sich ihrer annehmen konnten, aber ich brachte es nicht übers Herz. Hätte ich damals bereits gewusst, welches Schicksal mir und meiner Tochter beschieden war, so hätte ich es wahrscheinlich getan. Doch wer konnte schon ahnen, wohin die Menschenjäger uns bringen würden? Wir alle gaben die Hoffnung nicht auf, dass uns entweder noch die Flucht gelingen würde oder aber dass wir an einen Ort kämen, wo es besser war als in diesem Lager.
Nach etwa einer Woche war es so weit. Wir rund fünfzig Gefangenen wurden so aneinandergefesselt, dass wir eine lange Menschenkette bildeten, und wurden in die Küstenebene hinabgetrieben wie Vieh. Vor, hinter und neben uns liefen die Aufseher, die mit Peitschen dafür sorgten, dass alle sich in derselben Geschwindigkeit vorwärtsbewegten. Wer hinfiel und sich verletzte, wurde einfach mitgeschleift. Immerhin befanden sich in unserer Gruppe keine alten oder gebrechlichen Leute. Man hatte nur junge, kräftige Personen auserwählt. Die Männer waren leicht in der Überzahl. Sie waren den Frauen gegenüber im Vorteil, denn sie mussten keine Kinder tragen. Mit meinem an mich gewickelten Säugling erging es mir noch vergleichsweise gut. Es gab Frauen, die mit drei- bis sechsjährigen Kindern unterwegs waren, und diese zu schleppen war mühsam. Es war auch sehr traurig, denn die Kinder weinten und verstanden nicht, warum diese bösen Männer uns so misshandelten. Selbst das Flehen der Kinder konnte diese Bestien nicht erweichen, uns mehr zu trinken zu geben.
Nach einem halben Tagesmarsch waren die meisten von uns am Ende ihrer Kräfte und kurz vor dem Verdursten. Bei Einbruch der Dämmerung sperrte man uns in einen Pferch, der offensichtlich schon viele andere Gefangenengruppen wie die unsere aufgenommen hatte, denn er war sehr schmutzig. Unsere Notdurft mussten wir vor den Augen aller anderen verrichten, da wir weiterhin aneinandergefesselt waren. Es war eine furchtbare Schmach, sich wie die Schweine im eigenen Dreck suhlen zu müssen. An Schlaf war unter solchen menschenunwürdigen Bedingungen schon gar nicht zu denken. Meine »Nachbarn«, die in der Kette vor und hinter mir liefen, waren ein junges Mädchen, vielleicht 14 Jahre alt und bildschön, sowie ein hünenhafter Mann von rund 30 Jahren. Beide waren aus verschiedenen Stämmen, und keiner von uns dreien sprach dieselbe Sprache, obwohl wir alle Bantu waren. Die halbe Nacht starrten wir trübsinnig in den sternenklaren Himmel, das Mädchen leise wimmernd, der Mann mit geballten Fäusten, ich mein Kind schaukelnd. Das Mädchen und der Mann sollten den Marsch an die Küste nicht überleben – aber das ist eine andere Geschichte.
Als wir, stark dezimiert, die Küste erreichten, übergaben unsere Häscher uns einer Gruppe weißer Männer. Sie begutachteten uns wie Vieh. Sie schauten sich unsere Zähne an, begrabschten die Brüste der Frauen und lachten über die entblößten Genitalien der Männer. Wir standen alle nackt vor ihnen, und obwohl wir uns tagelang nicht gewaschen hatten, stanken wir nicht halb so erbärmlich wie diese farblosen Kreaturen in ihren sonderbaren Stammestrachten. Die sehr jungen Mädchen wurden von den Männern – Portugiesen, wie ich erfuhr, obgleich mir das wenig sagte – fortgeführt: Sie nahmen sie mit in ihr Nachtlager. Wir anderen wurden abermals in einen Pferch gesperrt. Man gab uns verdorbenes Obst zu essen und stinkendes
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