Das Lied des Kolibris
wenigstens wurde sie nicht von ihrer Familie dazu angehalten, vor Gästen zu singen, mit sterbenslangweiligen Herrschaften Konversation zu treiben oder sich den prüfenden Blicken hässlicher Burschen aus gutem Hause auszusetzen, die als Heiratskandidaten in Frage kamen. Sie hatte es selbst nicht leicht, die Sinhazinha, und deshalb verzieh Lua ihr ihre Marotten und unterstützte sie bereitwillig.
So nahm sie ihr oft die ihr verhasste Stickarbeit ab, heimlich, versteht sich, denn das Lob für die schönen Stickereien heimste die Sinhá Eulália gern selber ein. Auch beim Formulieren von Liebesbriefen war sie ihr schon behilflich gewesen, wobei sie sich immer der Gefahr bewusst war, der sie sich aussetzte, und sie sich schon manches Mal sehr zurückhalten musste, um die Rechtschreibfehler der anderen nicht zu korrigieren. Sinhá Eulália war auch so schon ganz verwirrt angesichts von Luas exzellentem Portugiesisch. »Woher kennst du nur all diese Wörter?«, pflegte sie zu fragen oder: »Wenn du lesen und schreiben gelernt hättest, wäre sicher eine Dichterin aus dir geworden.« Der Gedanke, die junge Sklavin könne alphabetisiert sein, kam ihr nie. Wenn diese als Kind bei ihrem Unterricht zugegen gewesen war, hatte sie nie jemand zur Kenntnis genommen. Reglos und still hatte sie in einer Ecke gesessen, für jeden sichtbar und doch so unscheinbar wie ein altes Möbelstück.
Wenn Lua dann später allein war, hatte sie die Buchstaben mit einem Stöckchen in den Staub gemalt oder mit einem Stück Kohle auf einen Stein gekritzelt. Sie lernte viel schneller als die Sinhazinha, und bald schon schlich sie sich in die Bibliothek und las heimlich in alten Wälzern, deren Inhalt ihr noch gar nicht zugänglich war. Die Lust am Lesen verlor sie dadurch keineswegs, im Gegenteil: Es stachelte nur noch ihren Ehrgeiz an, möglichst schnell möglichst viel zu lernen, damit sie bald in der Lage sein möge, all diese Bücher zu verstehen. Heute wusste sie, dass die Predigten eines Padre António Vieira oder die Poesie eines Gregório de Matos nicht unbedingt geeignet waren, um einem Kind das Lesen und Schreiben nahezubringen, doch damals quälte sie sich tapfer durch die anspruchsvolle Lektüre. Erwischt wurde sie dabei nie: Die Familie Oliveira schmückte sich nur mit den Büchern, las sie aber nicht. Wenn jemand die Bibliothek betrat, tat Lua immer so, als wedele sie gerade Staub.
Bedauernd warf sie einen Blick auf die geschlossene Tür der Bibliothek, die sie jetzt auf dem Weg in das Gemach der Sinhazinha passierten. Als sie das Zimmer erreichten, stockte Lua einen Moment lang der Atem: Es war vollkommen verwüstet. Kein Möbelstück stand mehr an seinem alten Platz, Kleidung lag verstreut auf dem Boden, und Schmuck ergoss sich über das Bett, das schräg mitten im Raum stand. Das Verrücken des Sekretärs war da noch das geringste Problem.
»Da siehst du, was du mit deiner Plauderstunde angerichtet hast«, tadelte Sinhá Eulália sie. »Wärst du nicht so lange fort gewesen, hätte ich nicht alles hin und her geschoben.«
»Das macht doch nichts, Sinhazinha, das sieht schon bald wieder sehr hübsch aus. Wo genau soll der Sekretär denn hin?«
»Aber Lua, stell dich nicht dümmer an, als du ohnehin schon bist! Das sieht doch jedes Kind: Der Schreibtisch soll hierher, das Bett soll dort stehen, die Kommode an dieser Wand und der Waschtisch in dieser Ecke.« Dabei wies sie auf die jeweiligen Plätze, die sie ihren Möbeln zugedacht hatte.
»Dann müssen wir aber auch die Bilder umhängen«, wagte Lua einzuwenden. »Die schöne Miniatur von der Heiligen Jungfrau soll doch sicher weiterhin über dem Sekretär hängen, oder? Und das Kruzifix über dem Bett?«
»Ja, ja, ja. Also: Mach es einfach so, wie ich gesagt habe. Ich lasse dich jetzt allein, denn Mutter hat bereits zweimal nach mir gerufen. Wahrscheinlich ist das Essen schon kalt.«
Lua knickste abermals. Insgeheim war sie froh, dass sie allein zurückblieb, denn die Sinhazinha besaß seit neuestem einen kleinen Gedichtband, den ihr ein Verehrer geschenkt hatte und den Lua sich gern ausborgen wollte. Neuer Lesestoff war rar in diesem Haus, und sie ergriff jede Gelegenheit, sich Zugang dazu zu verschaffen.
Zunächst jedoch machte sie sich ans Möbelrücken und Aufräumen. Es ging schneller als erwartet voran, und als alles an Ort und Stelle stand, setzte sie sich ungebührlicherweise aufs Bett und betrachtete ihr Werk. Ja, so war es gut. Dann, sie wollte gerade den
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