Es ist niemals vorbei
Eins
Ich öffnete die Augen, und prompt fing Ben an zu weinen. So war es jeden Morgen, als hätten wir beide eine innere Uhr, die genau gleich tickte. Ich wurde wach und sah den ersten Streifen Tageslicht an den Rändern der schwarzen Jalousien unserer Schlafzimmerfenster aufschimmern. Das Grau der Wände verblasste zu Weiß. Ich erkannte das goldene Fahrrad und den silbernen Mond auf dem gerahmten Poster an der Wand gegenüber. Dann begann das Weinen. Zuerst stimmte er ein paar zaghafte Probelaute an, die in leises Wimmern übergingen. Dann konnte man meinen Namen heraushören. Nicht meinen Vornamen – nicht Karin –, sondern
Mommy
. Vor etwa einem halben Jahr hatte Ben mich zum ersten Mal so gerufen. Ich war in Tränen ausgebrochen. Ich hatte noch im Halbschlaf vor mich hin gedämmert und einen Moment lang geglaubt, Cece verlange nach mir. Aber dann wusste ich wieder, dass es sie seit gut drei Jahren nicht mehr gab, und die Erinnerung an ihren kleinen toten Körper und die blutbespritzten Wände blitzte vor mir auf. Ich musste heftig den Kopf schütteln, um die Erinnerung zu verjagen.
Langsam richtete ich mich auf, um zu Ben zu gehen. Mac strich mir mit den Fingerspitzen so sacht über den Rücken, dass ich zusammenzuckte. Ich dachte, er schliefe noch.
«Ich gehe», sagte er.
«Nein, ist schon gut.»
«Doch, lass mich das machen.»
Ich legte mich zurück, schloss die Augen und hörte, wie mein Mann das Schlafzimmer durchquerte und in den Flur trat. Hörte die Spülung der Toilette und dass er in Bens Zimmer auf der anderen Flurseite ging. Aus dem klagenden «Mommy?» wurde ein gejauchztes «Daddy!». Dann Stille: Offenbar wechselte er Bens Windeln. Dann kehrte Mac mit Ben auf dem Arm zurück und sagte: «Hier habe ich ein Geschenk für dich.» Ben kuschelte sich an mich. Ich atmete seinen süßen, frischen Morgenduft ein und strich ihm sanft über den Kopf. Seine Haare waren dunkel wie die seines Vaters, bevor er graue Strähnen bekommen hatte. Ich schmuste mit meinem kleinen Sohn, bis Mac mit zwei Tassen Kaffee und der Morgenzeitung zurückkam. Ehe er zum Duschen und Rasieren ins Badezimmer ging, stellte er den Fernseher an. Ben krabbelte zum Fußende des Betts. Als er sah, dass die
Sesamstraße
lief, setzte er sich kerzengerade auf.
Mac, der zur Haustür gegangen war, um die Zeitung von der Eingangstreppe hereinzuholen, rief: «Es ist jetzt schon heiß draußen. Soll ich die Klimaanlage einschalten?»
«Noch nicht.» Die Klimaanlage war zwar wunderbar, um die feuchte Hitze der letzten Augusttage zu vertreiben, aber mich störte ihr Summen. Ohnehin würde es nicht mehr lange dauern, bis der Herbst begann und uns den ersten frischen Wind sandte. Ich hievte mich hoch, trank ein paar Schlückchen Kaffee und schlug die Zeitung auf. Die ersten Nachrichtenseiten überflog ich. Dann kam ich zum Wirtschaftsteil, und Macs Gesicht sprang mir entgegen. Mir fiel wieder ein, dass ihn vor kurzem ein Reporter zu seiner neuen Position interviewt hatte.
«Mac!»
«Was ist?»
«Der Artikel ist erschienen.»
Mit der Zeitung in der Hand stieg ich aus dem Bett und klopfte an die Badezimmertür. «Ich bin’s. Mach auf.» Mac verschloss immer die Tür, weil wir nicht wollten, dass Ben sie überraschend aufstieß und Mac nackt sah – mit all den Narben auf seinem Körper, diesen allzu sichtbaren Beweisen unseres früheren Lebens bei der Polizei. Eines Tages würden wir unserem Sohn von den beiden Serienmördern erzählen. Mac und ich nannten sie JPP s. Es stand für «just plain psycho», «einfach nur krank». So fiel es uns leichter, mit der Erinnerung an die beiden Wahnsinnigen umzugehen, die meinen ersten Mann und mein erstes Kind auf dem Gewissen hatten. Auch Mac hätten die beiden beinah das Leben gekostet. Aber das durfte Ben noch nicht erfahren. Er war noch ein unschuldiges kleines Wesen in der niedlichsten Phase seines jungen Lebens. So niedlich war auch meine Tochter gewesen, ehe das mörderische Duo zuschlug. Ihren dritten Geburtstag hatte Cece nie erlebt. Nach und nach würde die Welt Ben seiner Unschuld berauben. Dann, wenn die Zeit reif war, würden wir ihm alles erzählen.
Die Badezimmertür schwang auf. Mac war nackt, bis auf das Badetuch, das er sich um die Hüften geschlungen hatte. Brust und Rücken waren von kleinen weißlichen Narben gesprenkelt, die einfach nicht verschwinden wollten. Gleich unter seinem linken Schlüsselbein war er tätowiert – ein Anfall jugendlicher Rebellion. Das Tattoo
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