Das Lied von Anevay & Robert (The Empires of Stones) (German Edition)
Lauch. Robert bekam Hunger. Er wandte sich dem Jungen zu.
»Dieses Mädchen ist überfallen worden, Corvin. Böse Sache. Du läufst jetzt schnurstracks zu Doktorin Sigurdsson und holst sie her. Sie soll dem Mädchen ein Bett und soviel medizinische Hilfe geben, wie nur irgend möglich, hörst du?« Der Junge nickte, wollte schon auf dem Absatz kehrt machen, doch Robert hielt ihn am Arm zurück. Er hatte ein ehrliches Gesicht, wildes braunes Haar und Grübchen.
»Das hier ist für die Kosten.« Robert drückte ihm eine Silbermark in die Hand. Der Junge starrte ehrfürchtig auf die kunstvolle Münze, bevor er fest die Finger darum schloss. »Und noch etwas, Corvin. Sollte jemand dadrin Ärger machen, werde ich davon erfahren und dann werde ich wiederkommen und denjenigen finden, ist das klar?« Corvin schluckte erst heftig, dann nickte er. Ja, er hatte verstanden.
Robert drehte sich um und war binnen Herzschlägen im Nebel verschwunden. Der Junge blickte ihm fasziniert und ängstlich nach, dann rannte er so schnell er nur konnte, um Doktorin Lova zu finden.
Noch in der Nacht gab es bereits haarsträubende Gerüchte. Man hatte zwei bewusstlose Rabenmänner in einem Schuppen im Hafenviertel gefunden. Irgendjemand hatte dieses finstere Pack ordentlich aufgemischt. Ein Fleetschiffer erzählte in einer Gaststube nach seinem fünften Grog, dass ein dunkler Captain aus dem Nebel gekommen war, lautlos, ohne ein Geräusch zu machen, eine verletzte Jungfrau im Arm. Mantel und Dreispitz schwarz wie die Nacht, und mit einem Tuch vermummt. Einen schwarzen Vogel auf der Schulter.
Im Krankenhaus tuschelten die Schwestern Unglaubliches. Ein Held, gekleidet wie ein Kapitän, hatte eine junge Frau gebracht. Keinen seiner Schritte habe man hören können. Schwarze Flügel seien aus seinen Schultern gewachsen. Ganz plötzlich habe die Geschundene in einem der Betten dagelegen, wie eben aus dem Himmel gefallen. Eines seiner Augen sei aus Silber gewesen. Ein Götterbote, der die Bösen bestrafe. Vier Rabenmänner mussten für diese Tat büßen. Endlich gab es Gerechtigkeit!
Ein anderer Gast berichtete, sie hätten den Mann ebenfalls gesehen, weit oben auf einer der Ballustraden gleich neben der Kuppel des Thor-Tempels. Er habe gelacht und eine wahrhaftige Fylgja schwebte neben ihn.
Der Hafenmeister, der seinen Feierabend bei einem Teller Suppe in derselben Gaststube einleitete, hörte die Geschichte des Fleetschiffers. Er rief einen alten Kumpel von der Zeitung an, dieser wiederum, ein Gespür für den kleinen Mann auf der Straße und für fantastische Geschichten, schickte noch in der Nacht ein Telegramm nach London. Der befreundete Redakteur scheuchte seine Männer auf, ließ einen Zeichner rufen, klingelte den Chef aus dem Bett. Man habe da etwas, das die Leser verschlingen würden. Ein Bericht wurde geschrieben, ein Sonderblatt entworfen. Der Zeichner wurde zusammengestaucht: Der Held müsse natürlich wie ein englischer Captain aussehen, verdammt noch eins. Nein, doch nicht so! Mehr Pathos! Wisse er nicht, was das für eine Story werden könnte? Ja, so war es genau richtig. Gut gemacht.
Die Drucker gaben alles, die Jungen, die damit auf die Straßen sollten, bekamen heißen Tee, bevor man sie losschickte. Und so hallten die Kehlen der Zeitungsjungen durch die Straßen von London. Extrablatt, Extrablatt! Ein Schwarzweißbild von einem großen Mann, das Gesicht mit einem Tuch vermummt, prangte darauf. Der lange Captainsmantel schwang in einem unsichtbaren Windstoß. Auf den Stiefeln waren vage Bannkreise eingefügt worden, um den Zauber der Lautlosigkeit zu unterstreichen. Den Dreispitz hatte er tief ins Gesicht gezogen, dennoch erkannte man, dass er unglaublich gut aussehen musste, eine Meisterleistung des Zeichners. Er stand neben einer Tempelkuppel und starrte wartend in die Nacht hinaus. Englischer Held!, stand dort in der Kopfzeile. Und über der Zeichnung in dramatischen Lettern: THE NIGHT CAPTAIN .
Man riss den Zeitungsjungen die Ausgaben förmlich aus den Händen.
Die Tat nahm ihren ganz eigenen Weg, während Robert wie ein Bewusstloser in der Suite des Atlantiks auf dem Sofa schlief und von Nebel und Raben träumte.
Noch wusste der junge Lord nicht, dass dieser Winter sein Leben auf eine Weise verändern würde, deren Beschreibung er niemandem je geglaubt hätte. Dennoch sollte es so kommen. Und hätten die Skalden des Nordens oder ein Poet aus seinem Land ein Lied darüber schreiben müssen, so wären seine
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