Das Lied von Eis und Feuer 05 - Martin, G: Lied von Eis und Feuer 05 - A Storm of Swords. Book Three of A Song of Ice and Fire (1)
und dichtem, kratzigen braunen Bart. Das Gesicht hatte Sam schon einmal gesehen, doch er brauchte eine Weile, bis ihm wieder einfiel, wem es gehörte. Paul. Dem Kleinen Paul. Das Eis in seinen Haaren schmolz von der Hitze der Fackel und rann ihm in die Augen. »Schaffst du es, ihn zu tragen?«, hörte er Grenn fragen.
»Ich habe mal ein Kalb getragen, das war noch schwerer als er. Bis zu seiner Mutter habe ich es getragen, damit es Milch trinken konnte.«
Sams Kopf wippte bei jedem Schritt des Kleinen Paul auf und ab. »Hör auf«, murmelte er, »setz mich ab, ich bin kein Baby. Ich bin ein Mann der Nachtwache.« Er seufzte. »Lasst mich einfach sterben.«
»Sei still, Sam«, sagte Grenn. »Spar deine Kräfte. Denk an deine Schwestern und deinen Bruder daheim. An Maester Aemon. An dein Lieblingsessen. Sing ein Lied, das du magst.«
»Laut?«
»In deinem Kopf.«
Sam kannte hundert Lieder, aber als er sich an eins erinnern wollte, gelang ihm das nicht. Alle Verse waren aus seinem Kopf verschwunden. Erneut schluchzte er. »Ich kenne keine Lieder, Grenn. Früher kannte ich welche, aber jetzt nicht mehr.«
»Natürlich kennst du welche«, entgegnete Grenn. »Wie wär’s mit ›Der Bär und die Jungfrau hehr‹, das kennt doch jeder. Es lebte ein Bär, ein Bär, ein Bär! Ganz schwarz und braun und voll Fell war er!«
»Nein, das nicht«, bettelte Sam. Der Bär, der auf die Faust gekommen war, hatte kein einziges Haar auf seinem verwesenden Fleisch gehabt. An Bären wollte er überhaupt nicht denken. »Keine Lieder. Bitte, Grenn.«
»Denk doch an deine Raben.«
»Das waren nicht meine.« Sie gehörten dem Lord Kommandant, sie waren die Raben der Nachtwache. »Sie haben der Schwarzen Festung und dem Schattenturm gehört.«
Der Kleine Paul runzelte die Stirn. »Chett hat gesagt, ich könnte den Raben des Alten Bären haben, den, der sprechen kann. Ich habe Futter für ihn gesammelt.« Er schüttelte den Kopf. »Habe ich ganz vergessen. Das Futter habe ich im Versteck zurückgelassen.« Er trabte weiter, der bleiche, weiße Atem quoll bei jedem Schritt aus seinem Mund, und plötzlich sagte er: »Könnte ich einen von deinen Raben bekommen? Nur einen. Ich würde auch nicht zulassen, dass Lark ihn isst.«
»Sie sind weg«, antwortete Sam. »Tut mir leid.« So leid. »Jetzt fliegen sie zurück zur Mauer.« Er hatte die Vögel freigelassen, als er abermals die Kriegshörner hörte, die nun die Nachtwache zum Aufsitzen aufforderten. Zwei kurze Töne und ein langer, das ist der Befehl, in den Sattel zu steigen . Es gab keinen Grund aufzusteigen, außer um die Faust zu verlassen, und das bedeutete, dass der Kampf verloren war. Da bekam Sam es so sehr mit der Angst zu tun, dass er nur noch die Käfige
öffnen konnte. Erst als er dem letzten Raben zuschaute, der in den Schneesturm flatterte, fiel ihm ein, dass er keinem der Tiere eine seiner Nachrichten mitgegeben hatte.
»Nein!«, schrie er, »o nein, o nein.« Der Schnee fiel, und die Hörner wurden geblasen; ahuuu ahuuu ahuuuuuuuuuuuuuuuuuu , riefen sie, auf die Pferde, auf die Pferde, auf die Pferde. Sam sah zwei Raben, die auf einem Stein hockten, und rannte ihnen hinterher, doch die Vögel flatterten träge in verschiedene Richtungen durch den Schnee davon. Er jagte den einen, der Atem schoss ihm in dichten weißen Wölkchen aus der Nase, dann stolperte er und befand sich plötzlich drei Meter vor der Ringmauer.
Danach ... er erinnerte sich daran, wie die Toten über die Steine kamen, mit Pfeilen in den Gesichtern und den Kehlen. Manche trugen Kettenhemden, andere waren fast nackt ... bei den meisten handelte es sich um Wildlinge, einige trugen jedoch auch verblichenes Schwarz. Er erinnerte sich an einen der Männer aus dem Schattenturm, der seinen Speer in den bleichen, weichen Bauch eines Wiedergängers bohrte, bis er am Rücken wieder herauskam, und wie das Ungeheuer einfach den Schaft entlangging, die schwarzen Hände ausstreckte und den Kopf des Bruders drehte, bis diesem das Blut aus dem Mund rann. Da hatte Sams Blase zum ersten Mal versagt, dessen war er sich beinahe sicher.
Er wusste nicht mehr, ob er davongelaufen war, anscheinend musste er das getan haben, denn als Nächstes erinnerte er sich daran, dass er nahe am Feuer war, zusammen mit dem alten Ser Ottyn Wyters und einigen Bogenschützen. Ser Ottyn kniete im Schnee und betrachtete das Chaos um ihn herum mit starrem Blick, bis ein reiterloses Pferd an ihm vorbeilief und ihm ins Gesicht trat. Die
Weitere Kostenlose Bücher