Das Loch in der Schwarte
Schrei mit der Stimme. Sondern mit den Gedanken. Im Inneren, in der Dunkelheit, als leuchtete er mit einer kräftigen Taschenlampe.
Lange Zeit blieb es erschreckend still. Wie im Schock. Etwas da drinnen war aus der Fassung geraten.
»Was?«, kam es schließlich. Wie von einem Glühwürmchen, ein kleines Lichtsignal.
»Hör auf zu nerven, Nilson. Das hab ich damit gemeint. Lass mich verdammt noch mal in Ruhe.«
»Lass du mich in Ruhe.«
»Du kannst deine Ruhe haben, so lange du willst, wenn du nur die Schnauze hältst.«
»Du bist derjenige, der die Schnauze halten soll. Den ganzen Tag über denkst du an Mathematik. Zwei, vier, acht, sechzehn!«
»Aber das ist doch mein Job!«
»Ich will dich nur loswerden!«
»Nein, ich bin derjenige, der dich loswerden will.«
»Nein, ich bin derjenige, der dich loswerden will.«
»Nein, ich bin derjenige, der …«
Hier verstummten alle beide. Die ganze Situation erschien lächerlich. Nilson war derjenige, der den ersten, zögerlichen Schritt tat.
»Wir sollten mal darüber reden.«
»Reden?«, fragte Öyvind.
»Wir sollten vielleicht miteinander kommunizieren.«
Eine Weile Schweigen.
»Na, dann mal los«, erklärte Öyvind mit einigem Zweifel. »Fang an. Ich höre dir zu.«
Die folgenden Wochen wurden die merkwürdigsten und Schwindel erregendsten, die Öyvind Kuno je erlebt hatte. Jeden Tag, wenn er aus der Schule nach Hause kam, stellte er seine Tasche ab, lockerte den Schlipsknoten, knöpfte sich den Hemdkragen auf, nahm die Brille ab und legte sich erwartungsvoll auf das Schlafsofa. Es dauerte einige Minuten, die Gedanken des Tages zu vertreiben, zur Ruhe zu kommen. Doch dann war es soweit.
»Nilson«, dachte er. »Hallo, Nilson, bist du da?«
Das Gespräch konnte stundenlang dauern. Gegen Abend stand er auf, kochte sich eine einfache Mahlzeit, vielleicht Bratkartoffeln und Griebenwurst. Anschließend setzte er sich hin und schrieb alles aus dem Gedächtnis auf. Mit der Zeit füllten sich mehrere Notizhefte. Öyvind bezeichnete sie feierlich als »Pergament«.
Wenn er in ihnen las, fühlte er sich innerlich geradezu hingerissen. Oder durfte er es wagen, ein noch stärkeres Wort zu benutzen? Durfte er wagen, es als heilig zu bezeichnen?
Während des Schreibens begriff Öyvind schließlich, dass Nilson tatsächlich existierte. Bei den Visionen handelte es sich nicht um irgendeine Art von Psychose oder zeitweilige Besessenheit, Halluzinationen oder Stigmatisierungen. Nilson gab es auch in einer Art äußerer Bedeutung, und er erwies sich als vernünftig, ja geradezu logisch in seinen Gedankengängen.
»Nilson? Bist du ein Engel?«, fragte Öyvind.
»Definiere den Begriff Engel«, bat Nilson.
Gut gedacht. Zuerst die Sprache aufbauen. Anschließend die Welt.
»Warum erscheinst du irgendwie von der Seite her, Nilson? Ich kann dich immer nur im Augenwinkel erahnen.«
»Aber das bist doch du selbst, der von der Seite her zu erahnen ist.«
Öyvind dachte darüber nach.
»Ein Engel ist eine geistige Erscheinung«, erklärte er, »die sprechen und denken kann, die aber nicht aus Materie gebaut ist.«
»Dann bist du, Öyvind, ein Engel. Das stimmt haargenau.«
Nilson gab es also, aber nicht auf die menschliche Art und Weise. Er war nicht richtig im Hier und Jetzt vorhanden. Vielleicht war Engel doch ein ganz guter Begriff dafür. Öyvind dachte über die Definition nach, las Swedenborgs Traumbücher, studierte die Erscheinungen der Heiligen Birgitta und ihre Offenbarungen. Und je mehr er las, umso überzeugter wurde er. Die hatten das gleiche erlebt. Er war nicht der Erste. Hildegard von Bingen. Hiob. Zarathustra. Giordano Bruno. Mohammed. Siddharta Gautama Buddha. Alle hatten sie innere Stimmen gehört, von denen sie behaupteten, sie stammten von irgendeiner höheren Macht. Und alle hatten sie die Welt verändert.
Aber Öyvind Kuno war Naturwissenschaftler. Wie gern er es auch getan hätte, er konnte sich nicht damit zufrieden geben. Ob nun Engel oder nicht, das musste fürs Erste dahingestellt bleiben. Stattdessen holte er einen Stapel kariertes Papier heraus. Öffnete sein Set mit Winkelmesser, Winkeldreieck und Kurvenmesser. Anschließend begann er eine Skizze zu zeichnen. Gleichzeitig nahm er wieder Kontakt zu Nilson auf und begann ihm scheinbar unschuldige Fragen zu stellen:
»Nilson, hast du eine Länge? Ja, genau: Wie lang bist du? Und wie breit? Nimmst du ein Volumen im Raum ein? Nehmen wir einmal an, du legst dich in eine bis zum Rand gefüllte
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