Das Mädchen aus der Pearl Street
dann ließ er es sich wenigstens nicht anmerken.
„Nehmen Sie Platz“, lud sie ein, „ich werde inzwischen Wasser auf stellen-.“
Aber er setzte sich nicht. Er schritt unaufhörlich im Zimmer auf und ab und folgte ihr schließlich in die Küche, wo sie gerade Nescafe in die Tassen löffelte.
„Ich brauche Ihren Bruder“, sagte er ernst und starrte durch das Fenster hinaus in den ungepflegten Garten. „Und ich glaube, er braucht uns ebenso. Ich bin nicht hergekommen, um ihn persönlich zu besuchen. Man sagte mir, ich müsse mit Ihnen sprechen, wenn ich Erfolg haben wolle. Jeder weiß, daß Sie es sind, die die Familie zusammenhält.“ Er betrachtete sie ein paar Augenblicke lang nachdenklich. „Sie sind nicht ganz so, wie ich Sie mir vorgestellt hatte“, gab er dann zu, „Sie sind zu hübsch dazu.“
„Ist das nun ein Kompliment oder ein Tadel?“ fragte sie kühl. „Das weiß ich selbst nicht“, überlegte er. „Wäre das überhaupt von Interesse? — Meine Aufgabe sind Menschen, sie kennenzulernen, zu beurteilen und ihnen nach Möglichkeit zu helfen.“
„Ein Psychologe?“ erkundigte sich Kitty argwöhnisch. „Stimmt. Universität New York. Das stört Sie, nicht wahr?“ Sie war derart persönliche Fragen nicht gewöhnt.
„Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen“, murrte sie unwillig.
„Natürlich stört Sie das“, bestand er auf seinem Verdacht. „Ihr Herz hängt daran, gleichfalls ein College besuchen zu können. Ich weiß es. Sie hassen diese Pearl Street. Sie fühlen sich vom Schicksal getreten, weil Sie in diesem, wie Sie es sehen, von der Gesellschaft gemiedenen Viertel leben. Dabei nennt man solche Wohngegenden schon längst nicht mehr ,Slums’, sondern ,Notstandsgebiete’. Ist das so beschämend? Sie müßten einmal sehen, wo ich aufgewachsen bin! Im allerfinstersten Brooklyn! Ich bin jetzt 28 Jahre alt und habe gerade eben erst mein Examen machen können. Abendkurse. Zehn Jahre lang. Mir ist durchaus bekannt, wie einem Menschen wie Ihnen zumute ist, wenn er sich einem sogenannten ,Studierten’ gegenüber sieht. Wir brauchen nicht mehr weiter davon zu sprechen. Aber ich möchte nun gern etwas Näheres über Ihren Bruder erfahren.“ Seine Worte erstaunten sie. Sie betrachtete ihn aufmerksam, seine unterernährte Gestalt, die tiefen Linien in der Stirn und die echte Wärme in seinen Augen. Er meinte alles so, wie er es sagte, das sah man ihm an. Kitty empfand plötzlich eine ganz eigene Freundschaft für ihn, ein festes Gefühl der Kameradschaft. Sie stellte Zucker und Dosenmilch auf den runden Eßtisch, und dann saßen sie einander gegenüber.
„Na schön“, begann Kitty die Unterhaltung fortzusetzen, „was möchten Sie wissen?“
„Ihr Thomas treibt sich mit der Clique der sogenannten ‚Dämonen’ herum, nicht wahr?“
„Ich--ich glaube, ja.“
„Können Sie mir sagen, wo er derzeit arbeitet?“
„Nein“, sagte sie bitter, „wenn er überhaupt etwas Derartiges tut, dann habe ich keine Ahnung, wo es sein könnte.“
„Nun, ich weiß es. Er steht zur Zeit im Dienst von Nummer 211!“
Sie zuckte zusammen. Im Hause Pearl Street Nr. 211 lag ein Lokal, das offiziell als Bierhalle geführt wurde, aber es verging kaum eine Woche, in der nicht das Polizeiauto mit Sirenengeheul vorfuhr und eine Bande Halbstarker aushob.
„Das tut weh“, sagte Kitty leise.
„Thomas ist ein ganz, ganz dummer Bub“, fuhr Whitney fort. „Wir wissen es beide, aber er merkt leider nicht, wie er sich selbst zum Narren hält. Wenn er ein echter Gauner wäre, dann brauchte man sozusagen nicht um ihn zu trauern, denn es wäre nichts an ihm verloren. Aber sein Fall ist anders. Thomas ist ein ordentlicher Junge. Er sieht gut aus, ist hochbegabt, aber — leider durch und durch verbittert.“
Kitty machte eine hilflose Geste mit der Hand.
„Verbittert? Warum sollte er es nicht sein? In diesen Verhältnissen!“
Whitney lehnte sich angespannt vor.
„Das genügt mir nicht. Ich muß wissen, was ihn im einzelnen, im ganz besonderen, so enttäuscht hat. Ich muß erkennen, was er von seinem Leben erwartete, womit er glücklich sein könnte. Dann gelingt es mir vielleicht, ihn an der richtigen Stelle anzupacken. Sagen Sie mir, Kitty, was sind seine besonderen Wünsche? Wofür interessiert er sich?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Ich möchte es selbst gern wissen. Aber ich kenne ihn nicht so genau. Wir standen einander nie besonders nahe. Mit Danny war es etwas anderes, Danny hat
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