Das Mädchen aus der Pearl Street
Was?“
„Ich sagte, daß ich ihm eine Tasse Kaffee spendiert habe; Mutter schläft, also bitte brülle nicht so!“
„Ich werde weiterbrüllen--und wenn dieses Subjekt sich hier noch einmal blicken läßt, dann ziehe ich aus. Ich will mein eigenes Leben haben, habt ihr das immer noch nicht kapiert? Wehe dem, der es wagt, etwa hinter mir herzuschnüffeln..
„Zwickt dich dein Gewissen?“
„Gewissen? Ich habe kein Gewissen!“
Er lümmelte sich aufs Sofa und ließ seine reichlich lange Haartolle über die Augen fallen. Kitty betrachtete ihn. Dummer, armer, lieber Thomas! Er gab sich solche Mühe, möglichst verkommen zu erscheinen, aber er wirkte dadurch nur noch jungenhafter.
„Kaffee?“ lenkte sie ein.
„Neee!“
„Warum kommst du denn nach Hause, wenn nicht zum Essen?“
„Deswegen!“ Er schmiß einen Umschlag mitten auf den Tisch. „Es ist Geld drinnen.“
Sie nahm den Umschlag, öffnete ihn und zählte die Scheine, die darin lagen. Es waren fünf Zehndollarnoten. Sie hätte ihm jetzt gern ins Gesicht geschrien, daß sie leider wisse, auf welche Weise er dazu gekommen war, aber sie wagte es nicht.
„Das ist eine Menge“, sagte sie möglichst ruhig.
„Hm!“
„Ich freue mich, daß du wieder Arbeit hast, Thomas. Aber willst du denn nicht wenigstens einen Teil deines Lohnes für dich behalten?“
„Ich habe--, ich dachte, ich gebe lieber alles euch. Jetzt laß mich endlich in Ruhe, ich will pennen. Es ist verdammt heiß.“ Damit drehte er ihr flegelhaft den Rücken zu.
„Ja“, sagte sie traurig, weil er sich nicht helfen lassen wollte. „Ich, ich habe eine Stelle“, redete sie trotzdem weiter. „Heute abend um zehn Uhr fange ich an.“
„Heute abend um--wieviel Uhr?“ Er drehte den Kopf und blinzelte unter seinem Haarschopf hervor, „um zehn Uhr nachts? Was ist das denn für ’n Gewerbe?“
„Nachtschicht im Fairfield-Plastik-Werk.“
„Ppph! Ich hatte gemeint, du tätest es nicht unter einer wirklich damenhaften Beschäftigung.“
Sie zögerte mit der Antwort. Wenn sie ihm jetzt sagte, daß sie nur darum in die Fabrik ging, weil die Familie dringend Geld brauchte, dann faßte er es als persönlichen Vorwurf auf, weil er selbst niemals imstande war, einen Posten länger als ein paar Wochen zu halten, und dann den andern noch mit auf der Tasche lag. Kitty wußte, daß man ihn auf keinen Fall schelten durfte, denn sowohl Mutter als auch sie selbst hatten nur noch einen ganz, ganz losen Kontakt mit ihm, der durch die geringste Unstimmigkeit vollends zerreißen konnte. Bei all ihren Bemühungen, ihn ihre Zuneigung fühlen zu lassen, zog er seiner Familie doch schon mehr und mehr die Straße vor.
„Für den Augenblick bin ich auch so zufrieden“, sagte sie deshalb und bemühte sich, es nach vollster Überzeugung klingen zu lassen.
„Meinst du wirklich?“ spottete er argwöhnisch. „Eine herrliche Welt, in der wir leben, wie?“
3. KAPITEL
Nie zuvor war sich Kitty bewußt geworden, daß die Zeitspanne zwischen zehn Uhr abends und zwei Uhr früh vier volle Stunden beträgt, denn bisher hatte sie keinen Grund gehabt, diese so unbedeutende Tatsache zu beachten. Heute nacht aber erschien dies alles absolut nicht mehr nebensächlich. Sie wußte, daß ihr Lohn eine Tätigkeit von acht Stunden voraussetzte, aber bereits nach den ersten sechzig endlosen Minuten fühlte sie sich restlos erschöpft. Und noch drei weitere Stunden mußten durchgehalten werden, ehe sie wenigstens einmal eine Atempause einlegen durfte!
Wie lange dauern drei Stunden? Kitty hatte bisher nicht weiter darüber nachgedacht, aber die heutige Nacht gab ihr ausgiebig Gelegenheit dazu. Während der ersten Stunde war der Vorarbeiter bei ihr geblieben und kam nun in gewissen Abständen zurück, um sich von ihrem Fortschritt zu überzeugen — oder auch nicht. Im Augenblick war er gerade nicht da, aber die große Wanduhr überwachte weiterhin die Produktion. Wie ein großes, scharf geschnittenes, unerbittliches Gesicht starrte sie aus ihrer Höhe auf die Arbeiter herunter, sie mußte von jedem beachtet werden und konnte jeden sehen. Elf Uhr! Halb zwölf! Mitternacht! Zwölf Uhr dreißig--ein Uhr... Noch eine ganze,
lange, runde Stunde bis zur Pause! Kittys Hände konnten nicht mehr mit dem Uhrzeiger Schritt halten. Gegen ihren Willen verlangsamte sich jede Bewegung. Zehn Minuten nach eins. Viertel nach eins--ein Uhr zwanzig, fünfundzwanzig... Jede Fünfminutenspanne dehnte sich nun so endlos
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