Das Mädchen aus der Pearl Street
wie vorher eine Stunde. Die Hitze war unbeschreiblich und unglaublich. Der Schweiß lief ihr aus dem Haar und über die Stirn in die Augen und blendete sie zuweilen. Hin und wieder richtete die Frau, die neben ihr arbeitete, ein paar Worte an sie, die wegen des Lärms von Gesten begleitet werden mußten, um verstanden zu werden. Aber Kitty wunderte sich, daß nach dem ersten Schock über das Getöse die Ohren sich doch immerhin soweit anpaßten, daß man recht und schlecht miteinander sprechen konnte.
„He“, rief die Frau, „sind Sie neu? Der Vorarbeiter ist ein netter Kerl, nicht wahr? — Wenn Sie ein Schweißband brauchen, sagen Sie es ihm, dem Al, er gibt Ihnen dann eins aus Papier, mit dem Sie Ihr Haar zurückhalten können. Es hilft. — Über dem Eiswasserbehälter hängt übrigens ein Automat mit Salztabletten. Wenn man so schwitzt wie wir hier, verliert der Körper zuviel Salz, verstehen Sie. Manch einer ist darum hier schon ohnmächtig geworden. Die Tabletten sollen ausgleichend wirken --, mir haben sie allerdings bisher noch nichts genutzt.-- Ach, meine Füße, sie sind völlig wund--Ihre auch?“
Füße? Kitty konnte schon längst nicht mehr fühlen, daß sie derartige Gliedmaßen besaß. An ihren Beinen schienen ein paar formlose, bleischwere Klötze zu hängen, die sie unaufhörlich hinter sich herziehen mußte. In ihren Hüften spürte sie etwas wie spitze Lanzen, die bei jedem Schritt sadistisch drauflos stachen. Ihr Rücken schmerzte gleichfalls, und die Ventilatoren an der Decke über ihr konnten zwar gegen die Hitze nichts ausrichten, waren aber um so erfolgreicher darin, ihr bereits schon in der ersten Stunde einen Hexenschuß verpaßt zu haben. Vier Stunden! Wie lange dauern vier Stunden eigentlich? Könnte sie in Dean Tracys Armen über eine Tanzfläche schweben, dann würden diese 240 Minuten wie der goldene Schweif eines Meteors vorübergleiten. Dies hier aber war das andere Extrem. Jede Sekunde war ein grauenhaftes Stück Ewigkeit für sich, und der Gedanke, nach einer halben Stunde Pause nochmals von vorn anfangen zu müssen, war ein entsetzlicher Alptraum, aus dem man leider nicht erwachen konnte.
Auf und ab und auf und ab schleppte sie sich. Sie hatte schnell kapiert, wie man die Pressen öffnete und füllte. Al, der Vorarbeiter, hatte sie gelobt und gesagt, er hatte damit gerechnet, daß er die ganze Nacht brauchen würde, um ihr diese Handgriffe beizubringen. Die Bedienung der Verschlußhebel mußte besonders gut verstanden werden. Falls man beim Füllen etwas verkehrt machte, verlor man allenfalls eine Ladung der Produktion. Ein einziger falscher Griff am Hebel konnte aber die Hand oder gar einen ganzen Arm kosten. Was not tat, war Vorsicht, schärfte er ihr ein, Vorsicht und dann Übung, Übung, Übung! Berührte man mit der Fingerspitze für den Bruchteil einer Sekunde die Presse, so hatte man sich bereits eine böse, kleine rote Wunde zugezogen, auf der sich langsam eine Blase auftrieb, und wenn ein Schweißtropfen auf das glühende Metall fiel, dann zischte er wie ein Wasserstrahl in einer rauchenden Bratpfanne.
„Warum tragen wir denn keine Handschuhe?“ erkundigte sich Kitty.
Der Vormann schüttelte energisch den Kopf.
„Handschuhe machen die Hände zu ungeschickt und die Sache noch gefährlicher, als sie leider bereits schon ist. Wenn ich Sie jemals an der Presse mit Handschuhen erwische, dann reiße ich Ihnen den Kopf ab!“ Es sollte scherzhaft klingen, aber in dieser Umgebung hier erschien beinahe jede Grausamkeit möglich.
Kittys Tätigkeit spielte sich an sechs verschiedenen Maschinen ab. Die erste spie kleine, runde Plastikknöpfe aus, etwa immer zwanzig auf einmal, nachdem man sie vorher mit grauen Scheibchen, die in dieser Rohform „Pillen“ genannt wurden, gefüllt hatte. Die nächste Presse war ganz anders. An ihr war eine Messingwaagschale angebracht, in der Kitty eine sandig-mehlige Masse abwiegen mußte, die etwa so aussah, als habe man sie aus dem Staubsauger geschüttelt. Diese Masse wurde dann in eine Form gegossen, mit vier Messingschrauben befestigt, und mit einem wiederum eigens hierfür zu lernenden Hebelgriff ließ sich dann das Ganze wie in einer Zentrifuge in Rotation versetzen.
Kitty war froh, daß jede ihrer „Pflegebefohlenen“ besondere Aufmerksamkeit beanspruchte, denn das war das einzige, was sie wach hielt.
Plötzlich hörte sie eine Klingel schrillen. Irgendwie — wohl durch ein Wunder — war es doch noch zwei Uhr
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