Das Mädchen aus der Pearl Street
sich mir immer anvertraut, aber Thomas?“
„Er ist erst neunzehn“, verfolgte Whitney seine Gedanken weiter, „er ist jung, und es wäre noch reichlich Zeit, wenn ich ihn nur irgendwie erreichen könnte ...“
„Sie werden schwerlich Glück haben“, bedauerte sie, „Thomas hat seinen Stolz, er läßt nicht gern jemanden in seinen Gefühlen herumwühlen.“
„Ja, wem von uns ginge es nicht auch so? Wer läßt gern andere in sein Innerstes schauen? Aber trotzdem sehnt Ihr Bruder sich nach Hilfe und Verständnis, auch wenn er es nicht einmal sich selbst zugeben will. Er möchte um Beistand schreien, aber er ist zu scheu dazu. Ich weiß das alles. Im Gemeindehausklub haben wir eine Basketball- und eine Baseballmannschaft, er könnte sogar Fechtunterricht erhalten...“
„Schauen Sie“, unterbrach ihn Kitty, „mich brauchen Sie von Ihren guten Absichten nicht zu überzeugen.“
„Nein? Warum wollten Sie denn vorhin nicht mit mir bei einer Tasse Kaffee gesehen werden?“
Kitty lief dunkelrot an.
„Ich weiß nicht recht“, bekannte sie, „ich denke--, ich glaube, es ist eine Art Nachbarschaftssolidarität. Jeder hier hält das Gemeindehaus für eine karitative Einrichtung. Wir sträuben uns aber gegen Mitleid, wir wollen keine Almosen.“
„Ach, es ist doch immer das gleiche! Schauen Sie, ich sehe meine Aufgabe im Blick auf Ihren Bruder wahrhaftig nicht in irgendwelchen Zuwendungen oder sogenannter sozialer Freizeitgestaltung. Wenn ich mich nicht sehr täusche, dann steckt in Thomas etwas ganz Besonderes. Ich habe das untrügliche Gefühl, daß er brennend gern Wissenschaftler oder Künstler geworden wäre. Er sehnte sich verzweifelt danach, aber das Schicksal versagte ihm eine solche Ausbildung, und nun hat er sich selbst aufgegeben und tut alles, um sich vollends zu ruinieren. Ist Ihr Vater tot?“
Kitty nickte.
„Thomas ist der einzige von uns, der sich noch an ihn erinnern kann. Thomas war ein Jahr alt, als die Eltern nach Amerika einwanderten. Dann wurde ich geboren, dann Danny, und kurz darauf starb unser Vater.“
„Traurig, sehr traurig“, sagte er einfach, aber sie spürte wieder sein echtes Mitgefühl in den schlichten Worten.
„Für Mutter war es besonders schwer“, erzählte sie weiter, „denn sie konnte damals fast kein Wort Englisch sprechen, und sie ist nicht gerade eine Kämpfernatur, verstehen Sie?“
Er nickte. „Aber ich halte Sie für eine solche“, fügte er hinzu.
„Ja“, gab sie zu, „ich glaube es auch. Ich weiß, daß ich eine bin!“ bekräftigte sie, und unwillkürlich ballten sich ihre Hände zu festen, harten Fäusten.
„Ich muß jetzt gehen“, sagte er nun und stand auf, „wenn Ihnen irgend etwas einfällt, wofür Ihr Bruder sich interessieren könnte, lassen Sie es mich wissen; wir wollen versuchen, es ihm zu bieten und ihn langsam für unser Lager zu gewinnen.“ Kitty begleitete ihn bis zur Veranda und schaute ihm dann lange nach. Einen Menschen wie ihn konnte man tatsächlich respektieren, und sie wünschte sich plötzlich, daß er länger geblieben wäre. Wie mochte er es wohl angestellt haben, sich aus seinem Slumviertel herauszuarbeiten? Niemals zuvor war sie jemandem begegnet, der College und Universität besucht hatte und trotzdem in der Sprache der Pearl Street redete. Vielleicht konnte er wirklich etwas für Thomas tun?
Langsam ging sie zurück in die Küche, um die Tassen zu spülen, als sie die Vordertür klappen hörte, und gleich darauf kam Thomas herein. Jedesmal, wenn sie ihn sah, beeindruckte sie aufs neue sein gutes Aussehen, und sie mußte denken, daß ihre Familie zwar sonst nicht viel aufzuweisen hatte, aber eine gewisse Schönheit hatte sie der jüngsten Generation doch wenigstens vererbt. Thomas war groß und breitschultrig und hatte dunkles, welliges Haar. Zwar hielt er es offenbar für schneidig, sich möglichst selten zu kämmen, und auch seine Kleidung wirkte immer vernachlässigt, aber nicht einmal das konnte seiner sympathischen Erscheinung Abbruch tun. Das einzige, was an ihm wirklich störte, war seine Verstocktheit, und oft mißfiel Kitty sein Benehmen, wenn er sich über irgend etwas ärgerte. Heute aber überbot er sich darin selbst. Er war nicht nur störrisch oder zornig, er war im wahrsten Sinne des Wortes rotglühend vor Wut.
„Dieser Kerl vom Gemeindehaus--war der etwa hier?“
Kitty hob kampfeslustig das Kinn.
„Jawohl, er war hier. Und ich habe ihn zu einer Tasse Kaffee eingeladen.“
„Du hast--!
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