Das Mädchen aus der Pearl Street
Krankheitstagen gesund pflegte, die sich all seine kleinen und großen Kümmernisse anhörte und ihm bei seinen Hausaufgaben half. Danny wußte, wie sehr sie sich um Thomas und seine zweifelhaften Freunde Sorgen machte, und er fühlte auch, was mit ihr hinsichtlich Dean Tracy los war, auch wenn sie nie mit ihm direkt darüber gesprochen hatte. Danny sah und erkannte und wußte viel zuviel für sein Alter, aber die Boscz-Kinder hatten allesamt zu schnell erwachsen werden müssen. „Ich weiß nicht“, antwortete Danny endlich auf Kittys Frage, „du kennst Thomas. Er spielte sich mächtig auf, aber--hm, zugehört hat er, glaube ich, schon.“
„Thomas?“ griff Mutter den Namen auf und hob ihren Kopf. „Ist Thomas heimgekommen?“
„Nein, Mam, noch nicht.“
„Ich bin müde“, gab die früh gealterte Frau zu.
„Warum gehst du nicht zu Bett, Mam?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Ihr könnt gehen“, sagte sie, „ich will auf Thomas warten.“ Es war sehr heiß, und sie fühlten sich alle schläfrig. „Leg dich wenigstens aufs Sofa, Mam“, schlug Kitty vor. „Da hörst du ihn, wenn er kommt . “ Wenn er überhaupt kommt, dachte sie bei sich.
„Okay“, stimmte Mutter zu und ging in die Küche, um die Gläser auszuwaschen.
„Ist Thomas wirklich bei Petrucci?“ flüsterte Kitty eilig dem Bruder zu, „oder hast du das bloß gesagt, um Mutter nicht zu ängstigen?“
„Er war bei Petrucci, ganz ehrlich, Kitty. Aber wer kann sagen, wo er mittlerweile vielleicht geblieben ist?“
Kitty nickte. In ihre Stirn grub sich eine tiefe Falte, als sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufstieg. Es war ein kleiner Raum, aber er gehörte ihr allein. Heute abend knipste sie kein Licht an, sondern sie öffnete weit das Fenster und begann, sich beim fahlen Schein der von draußen hereinfallenden Lichter auszuziehen. Dort drüben hinter den Bäumen lag die Schule. Es war noch nicht einmal Mitternacht. Wie gern wäre sie jetzt dort in der geschmückten Turnhalle gewesen! Der letzte Tanz! Wer wußte, was ihr nun bevorstand?
Du mußt diese Burschen und Mädchen vergessen, redete sie sich selbst zu, sie gehören einer anderen Welt an, einer von der in der Pearl Street sehr, sehr verschiedenen Welt. Jene war eine sichere, festgefügte, glückliche Welt, und sie hatte das Leben dort in den vier Schuljahren ebenso intensiv studiert wie Stenografie und Buchführung. Wenn auch aus der Entfernung, so hatte sie doch all das Schöne und Gute sehen dürfen, aber auch damit war es nun vorbei. Die Söhne und Töchter jener anderen Welt wandten sich nun von ihr ab, ihre Wege würden die einer Kitty Boscz nie mehr kreuzen. Von nun ab mußte sie sich mit der Pearl Street begnügen und an nichts anderes denken als daran, Geld zu verdienen und Mutters Los ein wenig zu erleichtern. Mutter hatte in all den Jahren nicht gewagt, auch nur einen Erholungstag einzulegen, denn ihr schäbiger Lohn mußte vier Menschen ernähren. Nun war die Reihe an ihr, Kitty, und darum wollte sie sich gleich morgen nach einer Stelle umsehen, nach der bestbezahlten Arbeit, die zu finden war. Aber als sie hier am Fenster stand und ihre Stirn gegen das bröckelige Holzkreuz drückte, mußte sie doch immer wieder denken, was wohl Dean Tracy morgen anfangen werde.
2. KAPITEL
Die Stellenvermittlung war im obersten Stockwerk des Warenhauses Nesbitt hinter einer Wand aus Milchglas untergebracht. Ein Schild machte Kitty darauf aufmerksam, daß die Agentur zwar offen sei, man aber zu warten habe, bis man gerufen wurde. Kitty nahm also auf der äußersten Kante eines Stuhles Platz. Sie war ganz allein in dem kleinen Vorraum. Vorsichtshalber überzeugte sie sich nochmals, daß ihre Strumpfnähte auch gewiß gerade saßen, und kämmte sich geschwind die Haare glatt. Sie trug ein schmuckes, enges Kostüm, das sie letzten Herbst für 3.98 Dollar im Ausverkauf erstanden hatte, und dazu eine weiße, leicht gestärkte Bluse. Sie wußte, daß sie in diesem Anzug sehr gut aussah. Ihr schwarzes Haar war sorgfältig glattgeschnitten und in sanften Wellen gelegt. Sie hatte gerade soviel Lippenstift aufgetragen, daß er den Kontrast ihrer zarten, hellen Haut zu dem Dunkel ihrer Haare noch unterstrich, ohne daß der Blick durch zuviel Röte gestört wurde.
Beim Frühstück hatte sie noch einmal die Stellenangebote in der Zeitung durchgelesen, aber die meisten strich sie gleich ab, denn sie hatte keine Lust, auch in Zukunft weiter Eiscremekugeln auf Waffeltüten zu türmen
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