Verfuehrt von so viel Zaertlichkeit
1. KAPITEL
GOLD.
Helles, glänzendes, beflecktes Gold.
Sie wollte den Ring nicht mehr bei sich tragen. Er schien ihr den Finger abzuschnüren, obwohl er viel zu locker saß, denn sie hatte ein paar Kilo abgenommen. Sie streifte ihn ab, wie sie es schon längst hätte tun sollen, schon vor Wochen, vor Monaten. Aber sie war mit anderen Dingen beschäftigt gewesen, und der schmale Goldreif schien keinerlei Bedeutung gehabt zu haben.
Jetzt dagegen empfand sie es anders. Der Ring war das letzte sichtbare Zeichen, dass sie einmal, dass sie jemals …
Sie ballte die Hand so fest zur Faust, dass sich die Nägel tief in die Innenfläche gruben. Aber der Schmerz machte ihr nichts - ganz im Gegenteil. Das leichte Stechen und die roten Abdrücke zeigten ihr wenigstens, dass sie noch lebte, obwohl alles um sie her zerstört war.
Außer ihr und diesem goldenen Ring schien nichts mehr zu existieren.
Sie öffnete die Faust und betrachtete ihn. Sie versuchte, die Erinnerungen zu verdrängen, die er heraufbeschwor. Lügen. Alles Lügen! Und jetzt war er tot, entseelt, wie ihre Ehe es auch gewesen war.
Nein! Sie würde jetzt auf keinen Fall weinen. Nicht mehr. Niemals wieder!
Mühsam schluckte sie die Tränen hinunter, bevor ihr diese über die Wangen rollen konnten. Es würde lange dauern, bis sie alles vergessen konnte. Vielleicht würde es ihr nie gelingen…
Als Erstes musste sie diesen Ring loswerden. Sie wollte ihn nie, niemals wieder sehen. Sie wollte, dass er für immer verschwand.
Wieder schloss sie die Finger, diesmal jedoch nur locker. Dann holte sie aus und warf ihn, so weit sie konnte, von sich. In hohem Bogen flog er in den Fluss. Die Strömung war so stark, dass der Ring nicht die geringste Wasserbewegung verursachte. Ohne eine Spur zu hinterlassen, versank er irgendwo auf dem Grund im Schlamm.
Sie brauchte etwas Zeit, bis sie begriffen hatte, dass er endgültig verschwunden war - für immer. Endlich war sie frei, so frei, wie sie es schon unsäglich lange nicht mehr gewesen war.
Aber frei wofür?
2. KAPITEL
“Bringen Sie das Geschirr zum …” Jane verstummte, als eine Tasse mit lautem Klirren auf dem Küchenfußboden landete. Das hauchdünne Porzellan zersprang in unzählige kleine Stücke. Drei Frauen blickten sprachlos auf die Scherben.
“O Jane, das tut mir schrecklich Leid!” Paula war völlig fassungslos. Wie hatte ihr so etwas passieren können? “Ich weiß nicht, wie das geschehen ist. Natürlich werde ich den Schaden ersetzen. Ich
…”
“Das kommt gar nicht in Frage, Paula.” Jane blieb gelassen.
Es hatte eine Zeit gegeben - und die lag noch gar nicht so lange zurück -, da hätte ein Missgeschick wie dieses sie, Jane, in Panik versetzt. Damals hatte sie so knapp kalkulieren müssen, dass eine außergewöhnliche Belastung wie diese ihren Verdienst beträchtlich geschmälert hätte. Jetzt aber hatte sie sich mit ihrem Partyservice so weit etabliert, dass sie solch einen Verlust durchaus verschmerzen konnte. Außerdem versprach sich Felicity Warner, die Gastgeberin, sehr viel von diesem Abend. Wenn sich ihre Erwartungen tatsächlich erfüllten, würde sie die Scherben wahrscheinlich nur als gutes Omen betrachten.
“Bringen Sie das Tablett bitte ins Wohnzimmer, und verteilen Sie die Tassen.” Jane stellte vorsichtig eine neue Tasse zu den restlichen sieben Gedecken. “Rosemary kommt mit, um einzuschenken, und ich fege die Scherben zusammen.” Sie klopfte Paula aufmunternd auf die Schulter und öffnete den beiden dann die Küchentür, damit sie den Warners und ihren sechs Gästen den Kaffee servieren konnten.
Jane musste unwillkürlich lächeln, als sie sich, die Kehrschaufel in der Hand, auf den Boden kniete. Vor zwei Jahren hatte sie sich mit ihrem exklusiven Partyservice selbstständig gemacht, damals noch völlig auf sich allein gestellt. Jetzt hatte sie sich in den besten Kreisen Londons etabliert und beschäftigte Küchenhilfen und Serviererinnen wie Paula und Rosemary. Dennoch war sie es wieder, die fegte. Es schien ihr Schicksal zu sein.
“Liebste Jane, ich muss Ihnen einfach …” Felicity Warner kam in die Küche und blieb abrupt stehen, als sie Jane neben dem Tisch knien sah. “Was, in aller Welt…?”
Jane richtete sich auf und hielt die Kehrschaufel mit den Scherben hoch. “Ich werde Ihnen die Tasse natürlich ersetzen.”
“Vergessen Sie es.” Felicity Warner machte nur eine wegwerfende Handbewegung, was jedoch weder arrogant noch affektiert
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