Das Mädchen aus der Pearl Street
Sie konnte es noch immer nicht fassen. So wenig Geld, wo sie doch so viel brauchte!
Während sie langsam das kühle Getränk durch den Strohhalm sog und zwischendurch die kleinen Eisstückchen zerbiß, bekritzelte sie eine Papierserviette mit einer langen Zahlenreihe. Sie addierte und multiplizierte und dividierte, aber so eifrig sie auch rechnete, es wollte ihr nicht gelingen, aus diesem niedrigen Lohn all die Beträge herauszuquetschen, die sie zur Befriedigung ihrer Wünsche und Bedürfnisse nötig zu haben glaubte. Es war völlig unmöglich, auf einer Basis von Zweiunddreißig-fünfzig auch nur an den Besuch eines Handelskurses zu denken. Da waren erst einmal vier Personell in der Familie Boscz, die ernährt und gekleidet werden mußten. Mutter brachte durchschnittlich jede Woche 60 Dollar heim. Die Miete verschlang bereits davon 25 Dollar monatlich, und man schuldete der Kohlenfirma noch immer die Rechnung für den vergangenen Winter. Im Herbst mußte warme Kleidung gekauft werden, und die Heizung würde weitere Summen schlucken. Kitty gab es auf. Es geht nicht, dachte sie unglücklich, mit dieser Stelle schaffe ich es nie. Die Arbeit an sich würde wohl nett und angenehm sein, gerade recht für eine verheiratete Frau, die sich nebenbei etwas Taschengeld verdienen wollte, oder für junge Mädchen, die daheim auf Kosten der Eltern leben konnten und sich außerdem noch ein paar luxuriöse Sonderwünsche erfüllen wollten. Hier war sie also bereits wieder, jene harte, trennende Linie, so unsichtbar und auch ebenso mächtig und unerschütterlich wie die Mason-Dixon-Line im Krieg zwischen den Nord- und Südstaaten. Es war nicht das Geld an sich, sondern das Gefühl der Sicherheit, das man mit Geld erwerben konnte. Zu wissen, daß immer genug zu essen im Haus ist und genug Kleidung und Brennmaterial und Kinogroschen. In der Pearl Street konnte man mit all dem niemals rechnen. Wenn jemand arbeitslos wurde, wenn ein Unfall geschah, dann war man sogleich auf die Wohlfahrtsunterstützung angewiesen, und die reichte kaum für Kartoffelsuppe und dicke Bohnen aus der Büchse.
Noch einmal überflog Kitty die Stellenangebote in der Zeitung, und diesmal beschäftigte sie sich endlich mit dem großen, gesperrt gedruckten Inserat, das bereits seit Tagen fast die Hälfte der ersten Seite einnahm:
ARBEITSKRÄFTE GESUCHT - FAIRFIELD-PLASTIK-WERKE SCHICHTARBEIT - HOHER LOHN
VERDIENE, WAHREND DU LERNST - ALTERSVERSORGUNG UND BEZAHLTER URLAUB.
Fabrikarbeit! Sie hatte sich geschworen, niemals eine solche Tätigkeit anzunehmen. „Gut!“ zog sie nun laut und vernehmlich ihre Konsequenz und schloß die Augen zu einem schmalen Spalt, „es bleibt mir also nichts anderes übrig!“
Die Fairfield-Plastik-Werke lagen am Rande der Stadt und bedeckten ein Gebiet von gut dreißig Morgen Land. Der Autobus hielt am Tor, und ein Portier dirigierte Kitty zum Personalbüro, das gleich im ersten Gebäude lag. Es war genauso nüchtern gehalten wie das Büro der Stellenvermittlung im Warenhaus Nesbitt, der gleiche glatte Schreibtisch, die gleichen hölzernen Stühle. Hier brauchte sie allerdings nicht lange zu warten. Ein Mann trat auf sie zu, nickte und drückte ihr ein Bewerbungsformular in die Hand.
„Ich vermute, daß Sie sich für Büroarbeit interessieren, Miß“, sagte er freundlich, als er las, was sie ausgefüllt hatte. Diesmal hatte sich Kitty mit dem Mut der Verzweiflung gerüstet.
„Wieviel?“ erkundigte sie sich, ehe man ihr sonstige verlockende Vorzüge auftischen konnte.
„Einfache Stenotypistin? 35 Dollar pro Woche Minimum, 40 Dollar Maximum!“ kam die Antwort wie aus einem Automaten.
„Dann--bitte, was könnten Sie mir sonst anbieten?“ fragte Kitty weiter, ohne mit der Wimper zu zucken.
Der Mann begutachtete ihr schmuckes, gut sitzendes Kostüm und die tadellos gebügelte Bluse. Er schüttelte den Kopf.
„Ich fürchte, die einzigen andern offenen Stellen sind für Maschinenarbeiter an den Pressen, und auch da nur für Nachtschicht.“
„Auch für Frauen?“
„Für Männer und Frauen über 16!“
„Wieviel?“
„Fünfzig Dollar pro Woche für die Lehrzeit. Sie dauert drei Wochen. Danach--“
„Danach?“ fragte Kitty gespannt.
„Nach den ersten drei Wochen kommt es auf jeden selbst an. Sie bekommen 1.30 Dollar pro Stunde, dazu eine Zulage für Nachtschicht, und wenn Sie mehr schaffen als Ihre Quote, dann werden Sie extra bezahlt--, von da ab rechnen wir dann pro Stück.“
„Einen Dollar und
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