Das Mädchen, der Koch und der Drache: Roman (German Edition)
Kapitel 1
Der Wind weht eine Melodie herbei
Es ist kurz nach Mitternacht. Der Himmelswächter lehnt sich kopfüber aus seinem Tor, lässt seinen Schädel gähnend zwischen den Wolken herunterbaumeln und wirft einen Blick auf die Erde. Aus dieser Perspektive erscheint ihm Berlin ganz anders als dessen Bewohnern: Der Himmel sieht aus wie ein schwarzer Wok und die beleuchtete Stadt wie ein Haufen leckerer Zutaten, die früher oder später unweigerlich in den Wok fliegen werden. Die Kuppel des Reichstags – ein glänzender Blumenkohl. Das Sony-Center mit seinen hell erleuchteten Restaurants und dem violett schimmernden Zeltdach – durchsichtige Weintrauben, die auf einem Rotkohlblatt segeln. Und der Mercedes-Stern auf dem Europa-Center? Das ist der knusprige Zwiebelring, der dem Hauptstadtgericht den prägnanten Geschmack gibt. Die Menschen rollen wie Pfefferkörner herum, und gerade bei diesem Anblick läuft dem Diensthabenden das Wasser im Mund zusammen. Der Riese isst nämlich gern scharf.
Oswald Großstern ahnt nicht, dass er das Interesse eines Himmelssoldaten erregt hat. Er ist jung und schlank und hat im Dunkeln ein milchig schimmerndes Gesicht, das ein bisschen an Perlmutt erinnert. Eigentlich kein auffälliges Exemplar von einem Menschen in der Dreieinhalb-Millionen-Stadt. Doch seinrascher Gang und seine flatternden Haare lassen ihn sehr lebendig erscheinen. Und was besonders lebendig ist, das schmeckt auch besonders gut. Das weiß jeder Himmelsbewohner.
Aber warum läuft der junge Mann so aufgeregt durch die Nacht? Die Antwort ist einfach. Er steckt voller Kummer und Wut, die er nicht loswerden kann. Oswald soll nach dem Wunsch seines Vaters Rechtsanwalt werden und studiert Jura. Aber das Studium ist irgendwie staubig, langweilig und anstrengend, sodass er sich zwischendurch viele Pausen gönnt, um wieder zu Kräften zu kommen. Das Examen? Die Lizenz als Rechtsanwalt? Das alles kann warten.
Die Gitarre, die Oswald über der Schulter trägt, schlägt beim Gehen auf seinen Hintern und erzeugt einen hohl klatschenden Rhythmus. Der Himmelspförtner, der schon seine Hand nach dem jungen Mann ausgestreckt hat, hält inne. Gibt es eine Parade im Himmel? Hat es gedonnert? Verunsichert zieht er seine Hand zurück und richtet den Blick in die Himmelshöhen, wo er seine Vorgesetzten vermutet.
Die Gitarre ist Oswalds Geheimwaffe gegen die Karriere als Jurist. Wenn er als Songschreiber und Musiker berühmt werden könnte, wäre er glücklich. Eine Band namens »Fenster zum Salat« hat er schon gegründet, und gelegentlich gibt es auch mal einen Auftritt vor Publikum. Aber die augenblickliche Situation ist ebenso trüb wie das Hefeweizen, das Oswald so gern trinkt. Denn die Band, die aus dem Sänger Florian, dem Saxofonisten und Allround-Talent Marcel und ihm besteht, ist im Begriff, sich aufzulösen, auch wennOswald entschieden dagegen ist.
Die drei Freunde haben heute in Charlottenburg auf einer Vernissage gespielt, um dort Stimmung zu machen. Das ist ihnen auch gelungen, aber nach dem Auftritt fiel ihre eigene Stimmung weit unter null, denn Florian will nicht mehr mitmachen. Er sei Vater geworden und wolle von nun an für seine Familie sorgen, hat er gesagt und am Ende sogar laut gebrüllt, weil ihn die anderen nicht ernst nahmen. Normalerweise wären die Kumpel nach dem Gig in ihre Lieblingskneipe gegangen und hätten bis zum Morgengrauen herumgealbert und sich mit Bier abgefüllt, aber heute ist Florian einfach abgehauen. So ein Spielverderber! Wütend hat sich Oswald die Gitarre über die Schulter gehängt und ist allein losgerannt. Er braucht jetzt einen langen, erschöpfenden Fußmarsch, um schlafen zu können.
Als er in die Pestalozzistraße einbiegen will, bleibt er plötzlich stehen und horcht. Eine Frauenstimme segelt an ihm vorbei. Für einen Augenblick glaubt er, die Loreley habe ihren goldenen Mund geöffnet und gesungen. Was ist das für eine ungewöhnliche Melodie! Aber dann tritt eine Stille ein, als hätte es die Stimme nie gegeben.
Oswald dreht den Kopf hin und her wie eine Antenne und steckt sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Er wühlt in der Manteltasche nach seinem Feuerzeug, vergisst aber gleich wieder, wonach er sucht. Eine Minute vergeht. Zwei Minuten. Keine betörende Stimme. Nichts geschieht. Die Luft in der kalten Januarnacht scheint zu erstarren.
Ein Windstoß fährt durch sein Haar, und Oswald läuft ein Schauder über den Rücken. Erst jetzt merkt er, wie lange er schon
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