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Das Mädchen: Roman (German Edition)

Das Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Das Mädchen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Klüssendorf
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Blumensträuße sind sorgfältig zusammengestellt: Margerite, Kornblume, Mohn, von Sauerampfer und Gräsern umrandet; sie versucht Ellen und ihren Vater jeden Tag zu beschenken.
    Oft sitzt sie nahe den Bahngleisen, lässt sich von dem Geruch nach Rauch, Sommerluft und Kräutern betören, dreimal am Tag kommt die schwarze Molli vorbei, eine langsam fahrende Dampflokomotive. Das Pfeifen des Zugs weht zu ihr herüber, als wäre dies ein Gruß, nur an sie gerichtet. Überall blühen gelbe, weiße, bläuliche Kräuter, wilde Gräser und goldfarbene Büsche, ein Farbenmeer bis zum Horizont, dahinter das richtige Meer, und noch weiter dahinter soll der Westen sein. Der Westen steht für alles, was für sie niemals erreichbar sein wird. Manchmal versucht sie sich vorzustellen, wie der Westen aussieht, ihre Fantasie reicht von einer Kraterlandschaft bis zum Schlaraffenland, eigentlich aber beunruhigt er sie in seiner Unwirklichkeit. Lieber bleibt sie bei dem, was ihr vertraut ist; sie denkt an ihren Bruder, auch an die Mutter, sie vermisst ihre Puppen, doch sie beschließt, dass sie sie nicht mehr braucht.
    Im Hotel wohnen auch Ausländer, der lange Flur ist eine Geräuschkulisse aus verschiedenen Sprachen; es gibt zärtliche Laute, die geschmeidig wie fliegende Fische durch die Luft gleiten, es gibt Radau, Lachen, ersticktes Weinen, und manchmal rutscht eine Klage durch die Türritzen und verharrt dort wie ein Geist. Sie klopft an die Türen und bittet um Briefmarken; bald hat sie so viele Briefmarken gesammelt, dass sie ein Album damit füllen kann. Auf ihrer Lieblingsmarke ist ein tanzendes goldenes Nilpferd zu sehen.
    Sie hat sich mit einem polnischen Jungen angefreundet, sein Vater ist Sänger in der Combo, die abends im Hotelsaal spielt, seine Mutter streicht ihr oft übers Haar und sagt in gebrochenem Deutsch, wie schön sie sei, dunkles Haar und blaue Augen, sie prophezeit ihr viele Verehrer. Wodek zeigt ihr, wie man auf zwei Fingern pfeift. Sie laufen den Kutschen hinterher, in denen Touristen durch die Gegend gefahren werden, und setzen sich hinten auf die Ersatzreifen, manchmal knallt der Kutscher mit der Pferdepeitsche nach ihnen. An einem Abend, während sein Vater spanische Schnulzen singt, küsst Wodek sie. Noch stundenlang scheint ihr Mund zu brennen. So hat sie sich einen Kuss nicht vorgestellt, sie hat zwar gewusst, dass die Zunge mit im Spiel ist, aber nicht, dass es sich so eklig anfühlt, darauf kann sie verzichten. Doch sie schafft es nicht, ihm ihren Mund am nächsten Abend zu verweigern.
    Wodek hat eine Idee, er will den Urlaubern am Strand billig eingekaufte Limonade teuer verkaufen, dafür aber braucht er erst einmal Geld.
    Bist du dabei?, sagt er und zieht einen Grashalm durch die Zähne. Sie ahnt, was kommen wird, dennoch ist sie sofort einverstanden.
    Fünf Mark würden fürs Erste genügen, sagt er, und das Geld zu beschaffen ist natürlich ihre Aufgabe.
    Sie nimmt einen Schein aus der Brieftasche des Vaters, unglücklicherweise hat ihr Vater die Scheine gezählt. Niemals könnte sie zugeben, ihren Vater bestohlen zu haben – den Vater, der so heroisch seine Tochter zu sich geholt hat. Sie lügt verzweifelt, lügt sich in ihre Wahrheit hinein, die einzige Möglichkeit, aus der Sache wieder herauszukommen.
    Ihr Vater schließt sie im Zimmer ein und geht. Sie schlingt die Arme um ihren Oberkörper, läuft laut weinend, ihre Unschuld beteuernd, durch den Raum, doch die Stunden vergehen, und ihr Vater kommt nicht zurück. Sie ist müde, ihre Stimme heiser, das Blut rauscht in ihren Ohren. Sie will nur noch weg von hier. Sie packt ihre Sachen in einen Beutel, klettert aus dem Fenster den Blitzableiter herunter und landet auf einem flachen Teerdach. Von dem Teerdach sind es mindestens noch fünf Meter bis auf den Boden. Sie wirft zuerst den Beutel herunter, dann setzt sie sich auf den Rand des Daches und schaut nach unten, versucht abzuschätzen, ob sie da heil ankommen kann, und ist am Abend immer noch nicht gesprungen. Erst als oben im Zimmer das Licht angeht, springt sie in die Tiefe, und der Aufprall auf dem Boden ist genauso schlimm, wie sie befürchtet hat.
    Es hätte besser enden können, sagt der Arzt, als er sich die Röntgenbilder ansieht; sie muss für eine Weile im Krankenhaus bleiben. Ellen besucht sie mit verweintem Gesicht, und ihr Vater zwinkert ihr am Bett stehend zu, sie sieht sofort, dass er getrunken hat. Niemand spricht mehr von dem Diebstahl. Sie nimmt sich vor, Flaschen zu

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