Das Mädchen: Roman (German Edition)
folgsame Tochter, bügelt freiwillig seine Hemden, sieht großzügig darüber hinweg, wenn er volltrunken die Köchin begrapscht. Er scheint ihre Wandlung nicht zu bemerken, nach wie vor starrt er mittags nach dem Erwachen schlaftrunken seine Tochter an, und bevor sein Blick in alle Richtungen zuckt, murmelt er: Werd bloß nicht frech, mein Fräulein. Sie verzieht das Gesicht zu einem Lächeln, fast tut er ihr leid, doch dann kommt sie zu dem Schluss, dass er sie ohnehin nicht braucht, er braucht nur seinen Schnaps. Er hat kein Recht, verärgert zu sein, wenn sie geht.
Mit dem Wissen, dass sie bald weg sein wird, lassen sich die Stunden besser überstehen, Erwartung liegt in der Luft.
Sie kauft sich eine rote Plastikhandtasche, die sie seit Tagen im Schaufenster bewundert hat. Das Geld hat sie sich aus der Kassette ihres Vaters besorgt, er scheint die Scheine und Münzen schon lange nicht mehr zu zählen. Sie hängt sich die Tasche über die Schulter und läuft durch die Straßen. Es ist gleißend hell, sie schwitzt, fühlt sich von einem Augenblick auf den anderen krank. Sie sucht nach Schatten, Blasmusik weht von der Promenade herüber, die Töne legen sich mit dem Gewicht von Steinen auf ihre Haut. Sie kauert sich mit dem Rücken an eine Wand, den Kopf auf die angezogenen Knie, dämmert weg. Die Hitze kommt in Wellen, ergreift ihren ganzen Körper.
Sie kann sich nicht erinnern, wie sie in das fremde Bett gekommen ist, die Krankenschwester erklärt es ihr. Sie lag mit vierzig Grad Fieber auf der Straße, irgendjemand hat den Krankenwagen gerufen. Sie hat Scharlach. Die Stimme der Krankenschwester erreicht sie von weit her, sie will etwas antworten, doch ihre Zunge lässt sich nicht bewegen, hat sich in ein Stück rostiges Metall verwandelt.
Als sie wieder erwacht, erblickt sie zwei Gestalten, die sie zuerst für Traumbilder hält. Ellen sitzt strickend auf einem Stuhl, die Mutter steht am Fenster und blättert in einer Illustrierten. Sie schließt schnell die Augen. Vorsichtig blinzelnd stellt sie fest, dass Ellen keinen Bauch mehr hat und ihr Haar grau geworden ist – während die Mutter erblondet und schwanger zu sein scheint. Als sie sich aufsetzt, weil dies nur ein Traum sein kann, stürzt die Mutter auf sie zu und umarmt sie. Ein solcher Schreck fährt ihr in die Glieder, dass sie völlig erstarrt dasitzt, sie lässt die Umarmungen über sich ergehen, unfähig, sich zu rühren.
Was hast du denn?, sagt die Mutter. Freust du dich gar nicht?
Ich freue mich, versichert sie, und weil ihr sonst nichts einfällt, zeigt sie auf den Bauch. Bist du schwanger?, sagt sie.
Was für eine Begrüßung, sagt die Mutter und lässt von ihr ab. Natürlich bin ich schwanger, das sieht doch ein Blinder mit dem Krückstock. Sie presst die Lippen aufeinander und streicht über ihren Bauch.
Als Ellen an das Bett tritt und ihre Hand nimmt, weiß sie nicht, was sie sagen soll. Sie wirft der Mutter einen verschwörerischen Blick zu, als wäre ihr diese Frau peinlich. Sie kann Ellen nicht ansehen, möchte sie gern fragen, ob sie wieder richtig gesund ist, doch sie traut sich nicht. Stattdessen grinst sie und spürt, wie ein dumpfer Druck sich über ihr Herz legt. Als Ellen sich von ihr verabschiedet, schnürt ihr der Druck die Luft ab, doch sie grinst einfach weiter.
Die Mutter besteht darauf, noch heute nach Hause zu fahren. Als sie mit dem Arzt diskutiert, meint ihre Tochter ein Zittern in ihrer Stimme wahrzunehmen, ein ungeduldiges Zittern, hinter dem ein Beben lauert, das, jederzeit, in einen Sturm übergehen kann.
Während die Landschaft im Zug an ihnen vorbeifliegt und die Mutter von zu Hause erzählt, bedauert sie, dass sie sich nicht von Hugo verabschieden konnte.
Inzwischen ist die Mutter dabei, ihr die Stunden vorzurechnen, die sie ihretwegen schlaflos verbracht hat. Ein vages Gefühl der Unruhe steigt in ihr auf, die Mutter hat einen neuen Mann, und das Baby ist ein Wunschkind.
Alex wartet schon hinter der Tür. Sie umschleichen einander wie fremde Wesen, können es nicht fassen, wieder zusammen zu sein. Die Wohnung hat sich nicht verändert, nur ihr Bruder kommt ihr anders vor, noch seltsamer. Beim Sprechen rollt er die Zunge im Mund, als wolle er Murmeln spielen, reibt sich ständig die Hände am Stoff seiner Hose, springt auf, setzt sich, springt wieder auf, schaut unruhig umher, ein kleiner, überdrehter Kobold.
Dann holt die Schwäche sie ein, haut sie geradezu von den Füßen. Die nächsten Tage liegt sie im
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