Das Mädchen: Roman (German Edition)
nur langweiliges Zeug anziehen, und kämmen lassen sie sich auch nicht. Sie drückt die Puppe an sich und hält die Luft an. Auf dem Fußboden liegen noch weitere Geschenke. Doch bevor sie die auspacken darf, muss sie Freude zeigen, sie muss lächeln und Worte der Dankbarkeit stammeln. Danke, sagt sie und setzt ein großes, breites Lächeln auf, danke, danke, danke. Ihre Mutter scheint keinen der falschen Töne zu hören. Freust du dich, ruft sie, mein gutes Pferdchen, der Weihnachtsmann hat sich Mühe gegeben.
Alex fährt seinen Traktor über den Boden und macht brummende Geräusche. Der Vater hat den Ärmel des Bademantels bis zum Ellbogen hochgekrempelt und bestaunt eine neue goldene Uhr an seinem Handgelenk. Die Kerzen im Baum brennen herunter, ein paar Tannennadeln werden von den Funken getroffen und entzünden sich rötlich knisternd. So riecht Weihnachten, denkt sie, und ihre Mutter springt zum Baum und bläst die letzten noch brennenden Kerzen aus, mustert den Baum von oben bis unten, dann klatscht sie in die Hände und sagt: Und nun ab in euer Zimmer.
Sie nimmt ihre Geschenke und ruft Alex, der völlig versunken mit seinem Traktor spielt und nichts zu vermissen scheint. Er trottet ihr hinterher, seine Arme voller Spielsachen, die er sorgfältig, wie jedes Jahr, vor seinem Bett platziert. So hat er sie noch vor dem Einschlafen im Blick und kann sie gleich sehen, wenn er aufwacht.
Früh morgens betrachtet sie die mit Eisblumen geschmückten Fenster und haucht kreisrunde Flecke an die Scheibe. Draußen schneit es, und sie denkt daran, dass ihr Bruder sich Schnee gewünscht hat. Aber sie wird ihn nicht wecken, denn diese Augenblicke, in denen noch alles still ist, sind ihr kostbar. Sie geht noch einmal ins Bett, nimmt ihr neues Märchenbuch und taucht ein in eine Welt, in der so viel möglich ist, wo ein Tisch sich selbst deckt, der Teufel durch ein Nadelöhr passt, wo die Armen belohnt werden und die Bösen bestraft.
Der erste Weihnachtstag verläuft sorglos, erst am Abend ist sie wieder dran. Sie hat nicht widerstehen können, ist immer wieder zum Backofen gegangen und hat von der knusprigen Gänsehaut gekostet. Die Mutter steht erstarrt vor der Gans, als könne sie nicht fassen, was geschehen ist. Der Ausdruck in ihrem Gesicht verändert sich langsam, von Verblüffung in Wut. Sie sammelt Spucke in ihrem Mund und speit auf das Fleisch. Dann stellt sie die Kasserolle auf den Tisch und setzt sich.
Guten Appetit, sagt die Mutter und schaut sie drohend an, jetzt kannst du alles aufessen.
Sie weiß, dass sie aus dieser Situation nicht rauskommt. Sie fühlt ihre Zunge dick und pelzig im Mund, ein riesiger Berg, unter dem Blick ihrer Mutter beginnt sie zu essen.
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12
Von einem Tag auf den anderen ist der Vater wieder verschwunden, diesmal hat er all seine Sachen mitgenommen.
Die letzten Februartage sind frostig. In der Dunkelheit wird sie von der Mutter losgeschickt, um Briketts zu klauen, die in kleinen Bergen festgefroren vor den Mietshäusern liegen. Als die Kohlenhaufen auf den Straßen zur Neige gehen, füllt sie ihre Eimer im Nachbarkeller mit Kohlen. Früh, wenn noch alle schlafen, heizt sie und bringt die Asche in den Hof herunter. Sie mag es, als Erste wach zu sein, mag den Geruch des Morgens, im Mund die Kälte.
Die Mutter ist fast eine Woche nicht zu Hause gewesen, bei ihrer Rückkehr bringt sie ihren Kindern Geschenke mit. Einen großen, blauen Plüschelefanten, Plastikobst und winzige Fläschchen für den Kaufmannsladen. Die Geschenke hält Arno im Arm. Ausgelassen wirbelt er den Plüschelefanten durch die Luft. Arno ist Franzose. Er hat ihrer Mutter eine Parfümflasche geschenkt, die aussieht wie der Eiffelturm. Die Mutter hat ihn in der Mitropa kennengelernt, seine Stimme habe es ihr angetan, verrät sie ihrer Tochter in einem glücklichen Moment. Er zieht aus dem Hotel zu ihnen, doch er kann nur wenige Tage bleiben, dann muss er zurück nach Frankreich. Sie beobachtet, wie ihre Mutter seine Kleidung und die Brieftasche durchsucht. Die Mutter lacht, wenn Arno spricht, gurrend, wie eine Taube, sein Deutsch klingt lustig, als wäre er von der Sprache amüsiert. Nach Arnos Abreise ist die alte Gereiztheit ihrer Mutter wieder da. Sie rechnet den Geschwistern vor, wie teuer sie sind, sie hätte sich ohne Kinder längst ein Auto oder sogar ein Haus kaufen können.
Arno besucht sie noch einmal, doch nach dem ersten heftigen Streit macht er sich schleunigst aus dem Staub. Nach Arno gibt
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