Das Mädchen: Roman (German Edition)
Münzen, Geldscheine, Bonbons, Schokolade. Doch schon bald langweilt sie das.
Sie räumt täglich die kleine Wohnung auf, putzt die Fenster, fegt, wischt, und zum krönenden Abschluss geht sie in die Gärtnerei, um einen Strauß Blumen zu kaufen. Seit ein paar Tagen sind die Ferienzimmer dort an neue Sommergäste vermietet; zwei Mädchen in ihrem Alter spielen Ball, sie sieht ihnen eine Weile zu, und als es zu dämmern beginnt, spielen sie zu dritt.
Sie zeigt Gudrun und Steffidie geheime Abkürzung zum Strand. Steffibesitzt ein Kofferradio. In der Heide, wo die wilden Gräser und Blumen längst von der Sonne verbrannt sind, hören sie Die großen Acht von Radio Luxemburg. Steffiund Gudrun tanzen eng umschlungen, mit geschlossenen Augen. Gudrun ist ziemlich dünn, doch Steffihat schon Brüste, ihr Mund glänzt in der Farbe von roten Beeren. Dann tanzt Steffiauch mit ihr. Von Steffiim Arm gehalten, fühlt sie sich seltsam kraftlos, sie drehen sich, pressen den Unterleib aneinander, und als der Tanz zu Ende ist, weiß sie nicht mehr, wo sie sich befindet.
Die beiden anderen setzen sich auf den Boden, ihre Hände verschwinden zwischen ihren Beinen, bewegen sich dort, wirbeln umher. Was macht ihr da?, will sie wissen, doch die beiden starren nur konzentriert in die Luft, ihr Atem wird schneller, heftiger, und schließlich stößt Steffieinen Seufzer aus, Gudrun folgt mit einem kurzen Schrei, und danach wollen die beiden nichts mehr vom Tanzen wissen. Am nächsten Tag zeigt ihr Steffi, wie man an sich selbst herummachen kann, um dieses unaussprechliche Gefühl zu bekommen. Sie probiert es aus, doch nichts passiert, nur ihre Finger ermüden.
Ihr Vater hat sich angewöhnt, Hugo zu baden. Wenn er nachts von der Arbeit kommt, kaum noch gerade stehen kann, schleppt er den größten Topf aus der Küche herüber, den sie mit Wasser füllen muss. Er steht schwankend in der Mitte des Zimmers und sagt: Ich bitte um Ruhe. Dann murmelt er etwas von Pflicht, Ordnung und Hygiene, torkelt zurück in die Küche und besorgt ausreichend Bestechungsmaterial. Immer ist Hugos Gier größer als seine Angst, nie kann er den Würsten widerstehen. Sitzt er erst einmal im Topf, ist er ohnehin verloren; der Vater shamponiert und wäscht ihn, während sie ihn festhalten muss. Sie ist wütend auf Hugo, weil er sich stets aufs Neue hereinlegen lässt. Er muss es doch kapieren, denkt sie und drückt ihn lange unters Wasser. Wenn sie ihn endlich loslässt, springt Hugo nach Luft japsend hoch. Doch er kapiert nichts, schon in der nächsten Nacht sitzt er wieder im Topf, den Bauch voller Würste und eine lächerliche Schaumkrone auf dem Kopf. In ihr wächst ein übermächtiger Zorn auf Hugo, sie hat das Gefühl, als befänden sich kleine, spitze Messer unter ihrer Haut, und hielte der Zorn noch länger an, würden diese Messer ihre Haut durchstoßen. Dann wäre sie ein messerscharfer Igel in Menschengestalt, und jeder, der ihr näher käme, würde sich an ihr verletzen. Wenn die Zornesanfälle verebben, fühlt sie sich schuldig; voller Reue schmiegt sie sich an Hugo, lässt sich von ihm die Hände lecken, spürt sein Herz unter dem Fell und möchte am liebsten sterben.
Seit Hugo täglich gewaschen wird, ist ihr ganzer Körper von blutig gekratzten Flohstichen übersät. Die Flöhe sitzen in der Bettwäsche und in den Kleidern, hinterlassen Kackspuren in ihren Hemden und Hosen. In einer großen Aktion wäscht sie alles, doch die Flöhe verschwinden erst, als ihr Vater die Lust daran verliert, Hugo zu baden. Auch für seine Tochter scheint er sich nicht mehr zu interessieren, ich als Mensch habe meine Rechte, sagt er, bevor sie auch nur eine Frage stellen kann. Mit beduseltem Blick schaut er in den Spiegel, ich als Mensch, wiederholt er, seine Stimme klingt durstig. Sie hält immer einen Schritt Abstand, man kann nie wissen, sagt sie sich.
Steffiund Gudrun sind längst abgereist. Es kommt ihr so vor, als wäre es immer derselbe Tag, dieselbe Stunde, um die Mittagszeit herum. Unter der Julisonne verharrt das Leben regungslos, selbst die Vögel scheinen das Atmen zu vergessen. Sie liegt mit Hugo in der Heide, sehnt sich nach Menschen, die ihr vertraut sind, nach Bruder und Mutter, und dort, wo sie sich sehnt, sitzt ein schmerzender Fleck in ihrer Brust und nimmt ihr die Luft. Sie schreibt der Mutter einen Brief.
Von da an wartet sie und bereitet sich vor, sie kauft Geschenke für Alex, häkelt Topflappen für die Mutter. Ihrem Vater zeigt sie sich als
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