1449 - Der Knochentempel
Betty Grinth hatte das Gefühl, die Welt würde aufhören, sich zu drehen. Sie erlitt einen Schock und war nicht fähig, etwas zu sagen.
Der Schädel war etwa einen Meter weit aus der Schultasche gerollt, denn die Frau hatte recht hart gegen die Tasche getreten. Er lag durch Zufall so, dass sie auf die Vorderseite schauen konnte, und sie sah dort die Löcher in einem fahlen Knochengebilde. Augen, Mund, auch das Loch der Nase.
Durch die Deckenleuchte im Flur hatte der Schädel einen etwas gelblichen Glanz bekommen. Noch während Betty Grinth schreckensstarr auf dem Fleck stand, wurde ihr plötzlich klar, dass dieser verfluchte Totenkopf echt war. Es war kein nachgemachtes Teil, das in irgendeinem Laden für makabre Scherzartikel gekauft werden konnte. Hier lag ein menschlicher Schädel vor ihr, und der hatte sich zudem noch in der Schultasche ihres Sohnes Stevie befunden.
Das war verrückt. Das war normal nicht nachzuvollziehen. Sie erwachte aus ihrer Starre und schüttelte den Kopf. Sie hörte sich einatmen und hatte das Gefühl, schwere Luft in sich einzusaugen.
Erst jetzt merkte die Frau, dass sie von einem Zittern erfasst wurde, und sie war froh, die Wand in der Nähe zu wissen. Dort fand sie eine Stütze.
Einatmen. Sich beruhigen. Sie drehte sich zur Seite und drückte ihre linke Schulter gegen die Wand. Den Schädel sah sie nicht mehr.
Dafür schaute sie nach vorn und in den schmalen hohen Spiegel, in dem sie sich selbst sah.
Eine fremde Person. Eine Frau, die so verdammt bleich aussah, weil das Blut aus ihrem Gesicht gewichen war. Wenn sie sich hätte beschreiben sollen, sie hätte sich selbst als Gespenst angesehen.
Einen so großen Schreck hatte sie lange nicht mehr erlebt. Der Druck in ihrem Kopf breitete sich bis zu den Augen hin aus.
Ruhig atmen. Sich zusammenreißen. Es war ja möglich, dass der Schädel doch nicht von einem Menschen stammte. Vielleicht hatte ihn Stevie von einem Klassenkameraden bekommen, damit er andere Freunde damit erschreckte.
Die Trockenheit in ihrem Mund verschwand. Sie konnte wieder normal Luft holen. Das brauchte sie auch, um sprechen zu können, und sie rief den Namen ihres Sohnes.
»Stevie…«
Nein, das war kein Ruf. Ihre Stimme hatte viel zu schwach geklungen. Es war nicht mehr als ein Krächzen.
Sie versuchte es erneut. Diesmal lauter. Stevie musste sie einfach hören, denn die Tür zu seinem Kinderzimmer war nicht geschlossen.
»Was ist denn, Mum?«
»Komm her, bitte!«
»Wieso?«
Betty verdrehte die Augen. Die Frage kannte sie. Ihr Sohn befand sich in einem Alter, in dem er alles hinterfragte. Das würde auch noch einige Zeit so bleiben.
»Ich möchte, dass du kommst. Hier im Flur liegt noch deine Schultasche.«
»Weiß ich.«
»Und?«
»Ich räume sie gleich weg.«
»Nein, nicht gleich. Sofort. Und wenn ich das sage, dann meine ich es auch so.«
Sie hörte ihren Sohn stöhnen. Auch das kannte sie. Er tat es immer, wenn ihm etwas nicht passte. Aber er stemmte sich nicht mehr dagegen. Betty hörte Geräusche aus dem Flur und drehte ihren Kopf nach links.
Ihr Sohn schob sich durch die Tür.
Seine Jacke hatte er ausgezogen. Jetzt trug er nur das grüne Sweatshirt mit dem Tigerkopf als Aufdruck und seine dunkle Hose mit den aufgesetzten Taschen.
»Was ist denn, Mum?«
»Schau dir das mal an.«
»Wo?«
»Da, deine Tasche.« Sie sprach mit ruhiger Stimme, was ihr nicht leicht fiel. »Ich bin dagegen getreten, und dabei ist etwas herausgerutscht. Sieh selbst.«
Stevie nickte. Er fuhr durch sein dunkles dichtes Haar und ging auf seine Mutter zu, die er aber nicht anschaute, denn er wusste genau, was passiert war.
Als er sie passiert hatte, blieb er stehen und schaute auf den Totenschädel.
»Was ist das, Stevie?«
»Ein Totenkopf.«
»Sehr richtig. Und wo kommt er her?«
Stevie machte der Anblick nichts aus. Er hob nur die Schultern und sagte mit leiser Stimme: »Ich habe ihn gefunden, und dann habe ich ihn einfach eingepackt.«
»Aha.« Vor der nächsten Frage fürchtete sich Betty ein wenig. Sie stellte sie dennoch. »Glaubst du, dass dieser – dieser – knochige Kopf echt ist?«
»Ja, das glaube ich. Er ist echt.«
»Du bist verrückt, Junge!«
Er sagte nichts und stand mit gesenktem Kopf auf der Stelle. Einige Male zog er die Nase hoch, danach herrschte für einen Moment Stille, bis sich Betty wieder gefangen hatte.
»Jetzt musst du mir nur sagen, wo du diesen verdammten Kopf gefunden hast.«
»Auf dem Weg von der Schule.«
Betty
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