Das Mädchen: Roman (German Edition)
ältester Bruder beendet gerade seine Lehre in einer Gärtnerei und will später Friedhofsgärtner werden.
Nach der Schule sitzt sie mit ihrer neuen Freundin am Ufer des Baches, nach und nach trudeln die Jungs ein. Das erste Frühlingslicht fällt auf ihre bleichen Wintergesichter, die sie hungrig in die Sonne halten, und dabei paffen sie Zigaretten, schnipsen die Kippen ins Wasser und beobachten, wie sie langsam davontreiben. Auch Mädchen sind dabei, sie kann sich ihre Namen schlecht merken, weil sie oft wechseln: Nicole aus dem Friseurladen, deren Arsch aus dem Rock platzt, Christa mit der fleckigen Haut, Regina, dreißig, also steinalt, noch eine Nicole, die nur zweimal kurz auftaucht.
Harry, einer der Jungs, nennt sie Heimkind. Na, du Heimkind, sagt er und meint es überhaupt nicht böse, er lächelt dabei, als wären sie vom selben Schlag. Jeden Freitag schmeißen die Jungs eine Party am Bach, egal, ob sie am nächsten Tag zur Schicht müssen oder nicht. Sie trinkt mit ihnen Bier, das in einer Blechwanne mit Eis lagert, und Bergarbeiterschnaps, der ihr beim ersten Schluck den Boden unter den Füßen wegreißt. Ihre Freundin Sputnik ist trinkfester, sie muss sich auch nicht ihre Schüchternheit wegtrinken, sie trägt Die Glocke von Schiller auf Sächsisch vor, und die Jungs lachen sich halb schlapp.
Sie kommt an diesen Freitagen immer viel zu spät ins Heim zurück, kreuzt erst gegen Mitternacht auf, von der übermüdeten Nachtwache erwartet, die sie wortlos in ihr Zimmer führt. Nach mehreren Verweisen bemüht sie sich, pünktlich zu sein. Harry bringt sie mit dem Moped, und sie lässt sich zum Abschied von ihm eine Kette machen, eine Kette aus Knutschflecken, die sie stolz am Hals trägt. Mehr lässt sie nicht zu, er darf sie nur küssen, nicht anfassen. Er schenkt ihr einen ausgekochten Hühnerknochen, ein Rippchen; für dich, du Heimkind, sagt er, und sie fragt sich, ob sie ihm vielleicht gefällt. Harry macht eine Fleischerlehre, seine Hände ähneln Riesenpranken, sie würde glatt in eine seiner Hände passen, er könnte sie damit umhertragen, einfach so.
Die Schulstunden verschläft sie oder albert herum, gibt im ernsten Ton Blödsinn von sich, und ihre Lehrer betrachten sie mit einem müden Staunen. Nur die Deutschlehrerin hält an ihrer Schülerin fest, sie sagt ihr eine große Karriere als Schauspielerin voraus. Diese Vorstellung schmeichelt ihr, doch sie fühlt, dass sie nichts mit ihr zu tun hat. Seit sie den Sportlehrer hat sagen hören, sie als Lady Milford sei eine Bohnenstange im Reifrock, hat sie keine Lust mehr mitzuspielen.
Im Frühsommer wird Ludi zwanzig Kilo leichter aus dem Krankenhaus entlassen. Sie ist erschrocken über seinen Anblick. Sie muss an den Gevatter Tod aus den Märchen denken, und wie der Ludi für zu leicht befinden würde, zu leicht, um am Leben zu bleiben. Als er zwei Wochen später stirbt, fühlt sie nur eine dunkle Beklommenheit, keine Trauer, und als sie versucht zu weinen, kommt sie sich unecht vor, wie eine schlechte Schauspielerin, die auf eine Zwiebel starrt, um loszuheulen.
Am letzten Schultag haben sich ihre Klassenkameraden eine Überraschung für sie ausgedacht: Auf ihrer Bank liegen eingewickelte Pausenbrote, Kuchen, Äpfel, eine Tüte voller Kirschen, Kekse, Bonbons, Schokolade – jeder hat ihr etwas mitgebracht, und sie beginnt langsam und gerührt unter den Blicken der anderen zu essen. Sie schafft alles, verschmäht nur die Schachtel mit den lebendigen Weinbergschnecken.
Die Schulprüfungen hat sie gerade so bestanden, außer der Deutschnote sind ihre Zensuren ziemlich mies. Sie wird eine Lehre als Rinderzüchterin beginnen, und die in ihrem Vertrag stehende Berufsbezeichnung Zootechniker/Mechanisator macht es auch nicht glanzvoller. Rinderzüchter wird nur, wer nichts Besseres bekommen hat.
Sie wird aus dem Heim entlassen. Tagelang haben sie über nichts anderes geredet. Sie sitzt mit den anderen im Bus, der sie in die Sommerferien und zu den Eltern bringen soll, und sie versichern einander, sich nie zu vergessen. Radatte will Schneiderin werden, und Mui geht weiter auf die EOS . Als sie am Hauptbahnhof aus dem Bus steigen, verabschieden sich die anderen eilig von ihr. Sie steht blinzelnd da, versucht ihre Tränen wegzulächeln. Was hat sie denn erwartet? Dass Radatte traurig ist, sie nicht mehr zu sehen, nicht mehr von ihr verspottet zu werden?
Sie hat nicht vor, nach Hause zu gehen. Sie lässt ihr Gepäck in einem Schließfach, geht durch die
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