Das Mädchen: Roman (German Edition)
Hörnern, vielleicht ist es eher ein Mufflon, denkt sie, oder ein Steppenschaf, und sie glaubt sich zu erinnern, dass die Weibchen nur kurze Hörner besitzen, wenn überhaupt.
Als sie aufstehen, fliegen Vögel mit lauten Rufen durch die Abendluft. Wir haben Fortschritte gemacht, sagt Bernd, das nächste Mal klappt es bestimmt. Sie hat keine Ahnung, ob sie überhaupt will, dass irgendetwas klappt, doch sie nickt, versucht ein Lächeln. Auf ihrer Haut glüht ein unbehaglicher Funkenregen, sie schämt sich, einerseits möchte sie ihm alle seine Wünsche erfüllen, doch will sie auch keine von denen sein, die es gleich machen.
Während der nächsten Tage versucht er es immer wieder, sie sieht ihm seine Verzweiflung an, doch sie kann ihm nicht helfen. Dann übergibt Conny ihr den Brief. Armes Rippchen, sagt sie. In dem Brief schreibt Bernd, dass es ihm leidtue und dass er ein Schwein sei. Natürlich schreibt er auch: Es ist aus. Sie hat es erwartet. Sie ist nur überrascht, dass er meint, er sei ein Schwein. Sie versteht kein Wort, eigentlich versteht sie gar nichts.
In den nächsten Tagen kann sie nichts essen. Ihr Nacken schmerzt vor Anspannung, doch der restliche Körper ist von einer großen Schlaffheit befallen, als wäre ihr das stützende Skelett abhanden gekommen. Sie geht in die kleine Kirche auf dem Friedhof und betet, sie wünscht sich ihn verzweifelt herbei. Sie will ihn nur wiedersehen, weiter nichts.
Wochenlang regnet es, Herbststürme fegen über die Felder. Das Wetter passt zu ihrer Stimmung: Auch sie würde am liebsten tobsüchtig durch die Felder jagen und die Bäume peitschen. Die Mädchen im Heim haben unter ihrer Laune zu leiden. Ihre Stimme hat einen unduldsamen Ton angenommen. Es hat den Anschein, als würden die anderen sie meiden, und das macht sie noch zorniger.
Als Radatte ihr einmal erzählt, sie habe Bernd auf der Straße gesehen, piekt sie ihr in jäher Wut mit dem Zeigefinger in eine ihrer Brüste, was ihr eine Ohrfeige einbringt. Als hätte sie nur auf diese Ohrfeige gewartet, rempelt sie Radatte an, du bist tot, schreit sie, schreit sich in ihre Wut herein, packt halb blind mit beiden Händen Radattes Haare, kann nicht aufhören zu schlagen. Radatte hat überrascht und abwehrend die Hände erhoben, die anderen Mädchen stehen erschrocken um sie herum, doch keine wagt einzugreifen.
Ein Mädchen, das sie an ihren Bruder Alex erinnert, muss täglich ihr Bett machen und das Zimmer aufräumen. Das Mädchen wird Puppi gerufen, sie hat ein schielendes Auge, das sie versucht, mit ihrem lockigen Haar zu verdecken. Puppi kann ihr nichts recht machen, denn sie entdeckt immer einen Fehler, und weil das so ist, wird sie von ihr bestraft. Puppi wehrt sich nie, sie weint nur lautlos, wenn sie die zwei Kopfkissen links und rechts auf Hüfthöhe halten muss, und wehe, die Kissen sinken. Dann wird Puppi von ihr verprügelt oder bekommt eine andere Strafe, sie ist da sehr fantasievoll. Sie dreht ihr die Arme auf den Rücken und führt sie in eine Ecke. Bei Vollmond muss sie auf die Knie und heulen wie ein Wolf, manchmal hält auch die Stehlampe her, die Puppi anheulen muss, bis sie heiser ist oder die anderen Mädchen ihre Nachtruhe einfordern.
Warum wehrt sich niemand gegen sie? Sogar Mui weicht vor ihr zurück, und sie ist keine, die sich einschüchtern lässt. Sie möchte so nicht sein, empfindet Abscheu vor sich selbst. Ein roher Zorn scheint in ihr zu toben, ein Zorn, der ihr wie ein wildes, gefährliches Tier vorkommt. Manchmal attackiert sie die Luft mit den Fäusten oder sie schreit unter ihrem Federbett.
Wenn die Mädchen abends im Bett liegen und flüstern, ist sie darauf bedacht, alles wiedergutzumachen. Sie erfindet Geschichten, entwirft Mui und Radatte eine wundervolle Zukunft, sie dichtet die Nationalhymne um, versucht die anderen zum Lachen zu bringen. Doch meistens endet es mit einer weinerlichen Selbstanklage, ich hab es nicht so gemeint, sagt sie, und sollte ich sterben, werde ich am Tag meines Todes in euren Träumen erscheinen, wenn ihr von einem Hasen träumt, der Purzelbäume schlägt, dann wisst ihr, dass ich tot bin.
Samstags warten die großen Mädchen ungeduldig, dass die Nachtwache ihren letzten Rundgang macht. Frau Polcke ist alt und schwerhörig, sie haben nichts von ihr zu befürchten. Sie wissen, dass die alte Frau gegen zehn Uhr abends das letzte Mal kontrolliert, ob alle in ihren Zimmern sind, danach geht sie nach unten in den Gruppenraum und schläft am Tisch
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