Das Mädchen: Roman (German Edition)
sich zuerst fragend umsieht, dann das Bonbon auswickelt und in den Mund steckt. Von da an versteckt sie Süßigkeiten in seinem Ranzen oder unter seiner Bank, und wenn er sie isst, fühlt sie sich mit ihm verbunden. Ich bin es, möchte sie ihm zurufen, doch nie schaut er in ihre Richtung.
Uwe hat einen Bruder, er ist eine Klasse unter ihr, und auch ihn findet sie schön. Als sie ihm einmal auf der Straße entgegenkommt, Alex an der Hand, erwidert er tatsächlich ihr schiefes Lächeln und bleibt stehen.
Du gehst mit meinem Bruder in eine Klasse, sagt er und fährt sich durch seinen Igelschnitt.
Sie nickt nur, atmet flach. Sie hört ihn weitersprechen, er scheint ihr eine Frage zu stellen, seine Nasenflügel blähen sich, sie sieht jede Sommersprosse auf seinem Gesicht. Schließlich begreift sie seine Frage. Wer ist das?, hat er gesagt und auf ihren Bruder gezeigt.
Thusnelda Morgenröte, antwortet sie übermütig und ist einem Glücksgefühl so nah wie nie.
Komischer Name, sagt er.
Sie kann ihm nur zustimmen und nickt, als wolle sie Sieger im Wettnicken werden.
In der Hofpause am nächsten Tag springt sie beim Gummitwist unkonzentriert und lässt das Gummi schnipsen. Doch als sie Uwes Bruder entdeckt, springt sie hoch und höher und verliert ihn dabei nicht aus den Augen. Auch beim Schulappell starrt sie ihn an, doch er scheint sie nicht zu bemerken.
Abends im Bett denkt sie sich Sätze aus, die sie ihm sagen wird. Sie schleicht sich ins Bad und betrachtet sich im Spiegel. Wenn sie ihrer Mutter glaubte, dann müsste sie der hässlichste Bastard unter der Sonne sein. Sie vergleicht sich mit anderen Mädchen, versucht sich vorzustellen, wie sie mit längeren Haaren aussähe, mit weniger abstehenden Ohren, doch das bringt nichts, sie hat einfach keine Ahnung, ob sie wirklich hässlich ist oder nicht.
Sie besitzt nur ein einziges Kleid, ein blaues Strickkleid, das vom vielen Tragen schon ganz ausgeleiert ist. Mit der Schere schneidet sie ein Loch in die Wolle und zieht an den Fäden, bis das Kleid sich unter ihren Händen auflöst. Sie hat vorausgesehen, was geschehen wird, und als die Mutter endlich von ihr ablässt, zwingt sie sich, unter Tränen zu lächeln. Denn als sie am Tag darauf in die Schule geht, trägt sie ein neues Kleid, und obwohl es ihr zu groß ist, betritt sie mit einem gewissen Stolz die Klasse.
Inzwischen hat sie den Namen von Uwes Bruder herausfinden können: Armin kommt von Arminius, das war ein Fürst und berühmter Krieger, sie hat es im Lexikon nachgeschlagen.
Eines Abends überrascht die Mutter Alex und sie mit einem Geschenk. In der Mitropa hat jemand eine Kasperpuppe vergessen. So ein Spielzeug haben sie noch nie gesehen, vielleicht kommt es sogar aus dem Westen. Der Kasperkopf sitzt an einem Holzstab in einer bunten, nach unten spitz zulaufenden Papptüte und kann heraus- und wieder hineingeschoben werden. Die halbe Nacht sitzt sie bei ihrem Bruder am Bett und versucht ihm das Spielzeug abzuschwatzen. Der Kasper kann nur einem gehören, sagt sie immer wieder, doch Alex beharrt auf seinem Vorschlag: Die Hälfte der Woche soll sie ihn haben, die andere Hälfte er. Drohungen helfen nicht, also gibt sie sich zum Schein zufrieden damit, aber nur unter der Bedingung, dass sie den Kasper zuerst bekommt.
Aufgeregt erwartet sie am nächsten Tag die Hofpause. Als sie Armin im Treppenhaus entdeckt, ruft sie ihn winkend zur Seite. Sie hält ihm den Kasper hin und sagt: Der ist für dich.
Er betrachtet die Kasperpuppe. Die ist lustig, sagt er und schiebt den Holzstab hoch und runter. Doch als er mit dem Geschenk einfach so verschwinden will, hält sie ihn am Arm fest. Können wir uns treffen?, sagt sie und fürchtet, dass er sie auslachen wird.
Morgen Nachmittag vor dem Kino, ruft er, während er die Treppen hinunterspringt, und bring deine Thusnelda mit.
Wann beginnt ein Nachmittag?, fragt sie sich. Sie steht seit zwölf Uhr mittags mit ihrem Bruder vor dem Kino. Die Hitze hat ihre Vorfreude gedämpft, sie starrt durch die schmutzblinde Scheibe, der Geruch von Fäulnis steigt ihr in die Nase. Sie erinnert sich an einen Film, den sie im Kino gesehen hat: Chingachgook, die große Schlange , mit Gojko Miti´c als Indianer, und wie sie am Ende des Films einen Hass auf alle Weißen hatte. Sie überlegt kurz, ob sie es Armin erzählen soll. Worüber werden sie überhaupt miteinander reden? Der Platz vor dem Kino ist schattenlos, Fliegen und Wespen schwirren um eine überquellende Mülltonne,
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