Das Mädchen: Roman (German Edition)
nächsten Morgen ist der Küchenboden wieder sauber. Ein säuerlicher Geruch liegt in der Luft, als sie die Tür zum Schlafzimmer der Mutter öffnet. Die Mutter winkt sie zu sich und redet mit weinerlicher Stimme auf sie ein, redet vom Paradies und von Jesus, der in einem goldenen Palast wohne, obwohl er doch in einem armseligen Stall zur Welt gekommen sei. Sie versucht mitfühlend auszusehen, doch empfinden kann sie nur Widerwillen. Aber dann erzählt die Mutter, was sie nachts geträumt hat, und der Traum gleicht ihrem Traum, endet mit den Hilferufen, die niemand hört.
Sie hält die Luft an. Ist es möglich, dass sie sogar in derselben Traumwelt leben? Sie wird nie entkommen können?
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Elvira ist neu in der Klasse und wohnt nur ein paar Häuser weiter. Nach der Schule haben sie denselben Weg, und als wäre es selbstverständlich, begleitet sie Elvira in einer Freistunde nach Hause. Die Tür wird von einer sehr dicken Frau geöffnet, die sie lächelnd begrüßt. In der winzigen Küche riecht es nach gekochtem Kohl. Es fällt kaum Licht durch die zum Hinterhof gehenden Fenster. Während Elviras Mutter die Mädchen über die Schule ausfragt, fährt sie sich mit der Patschhand durch ihre silberne Dauerwelle, die wie ein Lockenhelm ihren Kopf umrandet, und atmet schwer.
Sie hat noch nie eine so fette Frau gesehen. Ihre Mutter sei krank, erklärt Elvira später, der Stoffwechsel funktioniere nicht richtig, deshalb sei sie etwas korpulent. Bei ihrem nächsten Besuch lernt sie Elviras Vater kennen. Er trägt ein Parteiabzeichen am speckig gebügelten Revers seines Jacketts, karierte Hausschuhe und eine Nickelbrille. Wenn er ihr eine Frage stellt, setzt er seine Brille ab, doch meistens schweigt er.
Dienstags haben sie drei Freistunden, die sie bei Elvira zu Hause verbringen. In dieser Zeit läuft im Fernsehen die Wiederholung von Willi Schwabes Rumpelkammer , eine beliebte Sendung, in der alte Schwarz-Weiß-Filme vorgestellt werden, und dazu essen sie Spaghetti mit Tomatenketchup. Mehr noch als Heinz Rühmann und Theo Lingen mögen sie Johannes Heesters, in den sie ein wenig verknallt sind. Diese Dienstage sind Glückstage, sie freut sich schon die ganze Woche darauf.
Sie mag die Eltern ihrer neuen Freundin. Sie sind arm, aber diese Armut kommt ihr ehrbar vor, ganz anders als bei ihnen zu Hause. Ihre Mutter redet ständig über Geld, unter dem Bett hat sie eine Schatulle versteckt, in der sie Geldscheine und Schmuck aufbewahrt. Manchmal kommt sie in das Schlafzimmer und sieht die Mutter im Bett sitzen, Ringe und Armbänder vor sich ausgebreitet, die Geldscheine zu kleinen Haufen sortiert. Die Mutter fragt sie nie, ob ihr etwas gefällt, sondern immer nur, ob sie weiß, wie teuer die letzte Anschaffung war. Es bereitet ihr großes Vergnügen, wenn ihre Tochter sich irrt – es war viel teurer, sagt die Mutter dann mit stolzer Stimme.
Sie will der Mutter von Elvira etwas schenken, möchte sich bedanken für die Freundlichkeit, mit der sie behandelt wird. Noch nie ist sie zielgerichtet losgegangen, um etwas zu stehlen. Sie streift durch das Kaufhaus, betrachtet Blusen, Kleider, Mäntel. Keine der Verkäuferinnen fragt sie nach ihren Wünschen. Sie entscheidet sich für eine knallrote Kittelschürze aus Dederon, alle anderen Kleidungsstücke findet sie noch hässlicher.
Als Elvira die Tür öffnet, legt sie den Finger auf den Mund, bedeutet ihr leise zu sein. Ihre Mutter ist krank. Im Wohnzimmer sitzt Elviras Vater im Sessel, das Radio läuft. Er bietet ihr eine Tasse Kaffee an. Sie trinkt sonst nur Malzkaffee und ist überrascht vom bitteren Geschmack. Sie deutet auf das Foto an der Wand, das einen Mann mit nacktem, schmutzigem Oberkörper und schwarz verschmiertem Gesicht zeigt.
Wer ist das, fragt sie.
Elviras Vater nimmt die Brille ab und beginnt, einen Vortrag über Adolf Hennecke zu halten, Aktivist der ersten Stunde, der seine Arbeitsnorm selbst überboten hat. Es verwundert sie, wie ernsthaft er ihre Frage beantwortet, und weil sie spürt, dass ihm ihre Neugierde gefällt, stellt sie weitere Fragen. Doch dann wird sie das Gefühl nicht los, dass er redet, als müsse er sich selbst von seinen Worten überzeugen, seine Stimme klingt wie die eines Politikers im Radio. Mitten im Satz hält er inne, macht eine Handbewegung, als wolle er etwas vom Tisch wischen, und setzt die Brille wieder auf. Natürlich kennt sie den Namen Adolf Hennecke. Von wegen Vorbild für alle, über ihn werden Witze gerissen,
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