Das Mädchen: Roman (German Edition)
Keller. Es sind alte Bände von Brehms Tierleben , mit bunten, wunderschönen Abbildungen von Insekten, Säugetieren, Fischen, Vögeln und Kriechtieren. Sie nimmt den Band über die Vielfüßler, Insekten und Spinnenkerfe, hockt sich vor den Lichtstrahl und blättert vorsichtig die Seiten um. Sie bestaunt die Baukunst der Termiten, steile, hügelförmige Erdbauten, die drei Meter Höhe erreichen können; widerwillig und doch fasziniert betrachtet sie die schwarz glänzenden Aaskäfer bei der Arbeit, begleitet die Skorpionsfliege auf ihrem ersten Flug. Wenn sie die Augen zusammenkneift und lange genug ein Bild anschaut, dann lösen sich die Tiere aus den Buchseiten. Eine Feldgrille springt unter ihrem Fuß hervor, ein Wasserspringschwänzchen trifft den lichtscheuen Japyx, mit lautem Gesumme erhebt sich der mächtige Goliathkäfer in die Luft, seine Flügel leuchten goldgrün, er gilt bei Sammlern als große Seltenheit. Seidenspinner bedecken die Kellerwand, eine Eintagsfliege sucht nach Wasser, während mehrere Kornmotten nach Getreide ausschwärmen. Die Familie der Spinnentiere überblättert sie vorsichtshalber, sie fürchtet sich nicht vor Mäusen, Ratten oder Schlangen, doch schon der Gedanke an eine Spinne erfüllt sie mit Ekel.
Im vergangenen Winter verharrte eine Ratte Ewigkeiten vor ihren Füßen, und sie konnte in Ruhe überprüfen, was sie vorher gelesen hatte. Das Fell der Ratte ist am ganzen Körper dunkel, fast schwarz gefärbt, das Tier erreicht eine Gesamtlänge von fünfunddreißig Zentimetern, der Schwanz zählt bis zu zweihundertsiebzig Schuppenringe – das allerdings konnte sie nicht erkennen, denn als sie laut zu zählen begann, huschte die Ratte davon.
Das Licht im Keller wird blasser. Sie sieht kaum noch die Blumen auf ihrer blauen Dederonschürze. Regentropfen treffen auf die spaltbreit geöffnete Luke. Der Geruch des Regens nach einem heißen Sommertag löst in ihr ein Gefühl von Freude und Traurigkeit zugleich aus. Sie stellt sich vor, wie es wäre, tot zu sein. Es ist ihr wichtig, dass jemand um sie trauert. Außer ihrer Freundin Elvira und ihrem Bruder fällt ihr niemand ein, der um sie trauern würde. Es gelingt ihr nicht, sich vorzustellen, dass sie sich einfach auflösen wird, denn sie ist überzeugt davon, dass alles, was auf dieser Welt geschieht, etwas mit ihr zu tun hat; die Luft, die sie atmet und die sie umgibt, ist nur da, weil es sie gibt, würde sie nicht atmen, gäbe es auch keine Luft. Früher hat sie jeden Abend vor dem Einschlafen gebetet, inzwischen aber ist ihr der Glaube an Gott genauso fern wie der Tod.
Der Regen hat sich auf ein Nieseln eingependelt, es muss früh morgens sein, denn die Milch wird ausgeliefert. Sie hört die scheppernden Geräusche und die Stimmen der Männer, sie rollt sich auf dem Schlitten zusammen und denkt an ihr Lieblingsmärchen, in dem das kluge Gretel zwei gebratene Hühner verspeist.
Der Tag ist längst angebrochen, als Alex die Tür aufschließt. Sie hat gute Laune, sagt er und reibt sich mit der Hand über den Mund.
Die Mutter sitzt rauchend am Küchentisch, das ungewaschene Haar hängt ihr in die Stirn. Obwohl sie mürrisch aussieht, scheint sie guter Dinge zu sein. Ihre Tochter darf sich Brote schmieren und Verdünnungssaft trinken, doch sie weiß, dieser Zustand ist zerbrechlich wie Glas, also bleibt sie auf der Hut. Ihr Bruder aber ist eifrig bemüht, der Mutter zu gefallen, er versucht sie linkisch zu umarmen, trinkt aus ihrem Weinglas, schüttelt sich prustend und schneidet Grimassen. Sie spürt genau, wie es der Mutter langsam zu viel wird. Sie möchte Alex warnen, doch sie ist gebannt von seinem blinden, zitternden Eifer, sie fragt sich, wie dieser Anfall von guter Laune bei ihrer Mutter enden wird, denn schon sacken deren Mundwinkel herunter. Doch dann huscht ein Lächeln über das Gesicht der Mutter.
Wir spielen ein Spiel, sagt die Mutter, und Alex bricht sofort in übertriebene Heiterkeit aus, klatscht in die Hände. Er soll eine Peperoni essen und dafür fünfzig Pfennig bekommen. Sie hat noch nie eine so kleine, rot glänzende Schote gesehen. Vor der Mutter liegt eine ganze Tüte, die sie wahrscheinlich aus der Mitropa mitgebracht hat.
Fünfzig Pfennig, wiederholt die Mutter, und etwas in der Stimme macht sie stutzig, doch da hat ihr Bruder schon in die Schote gebissen, er kaut, schluckt, beginnt zu schreien und rennt zum Wasserhahn, hüpft durch die Küche, hochrot im Gesicht, wedelt wild mit den Händen, als wolle er
Weitere Kostenlose Bücher