Das Maedchen und der Luegner
Liebeskummer, oder hatte sie sich irgendetwas zu Schulden kommen lassen, und sie musste wegen der Schande flüchten?
»Woran denkst du, Junge? Ich habe deinem Gesicht angesehen, dass dir etwas nicht gefällt.« Lavinia griff nach der Hand ihres Enkelsohnes. »Sag mir doch, was du denkst.«
»Es ist nichts«, wehrte Severin hastig ab. Er wollte seiner Großmutter die Freude auf die erwartete Gesellschafterin nicht verderben. Vielleicht waren seine Zweifel ja unbegründet, sein Misstrauen unberechtigt. Die Zukunft würde es weisen, und doch war es schwer zu warten, wenn man so ungeduldig war wie Severin von Tarlton.
***
Das gleichmäßige Rattern der Räder wirkte einschläfernd. Häuser huschten an den Fenstern vorbei, Wälder, Felder, bunte Wiesen. Der Frühling zeigte sich in seiner schönsten Pracht, und während sich die Landschaft unaufhaltsam veränderte, wuchs die Erregung in Tanja immer mehr.
Bald würde sie Olsdorf erreichen und am Bahnhof aussteigen. Ein Wagen von Gut D reieichen würde sie abholen und zu ihrer neuen Arbeitsstätte bringen. Was erwartete sie dort?
Tanja verspürte ein seltsames Gefühl in der Magengrube. Einen Moment lang bedauerte sie sogar, ihr altes Leben einfach verabschiedet zu haben. Sie hatte sich doch wohlgefühlt bei dem Arztehepaar, ihr Leben verlief in geordneten Bahnen und war zu jeder Stunde vorhersehbar.
Und nun das.
Dann musste sie wieder an den Abschied von den Wollners denken. Das Ehepaar war ihr mehr ans Herz gewachsen, als sie gedacht hatte. Und auch die beiden Ärzte schienen sich nicht leicht von ihr getrennt zu haben. Jedenfalls hatten beide ihr ans Herz gelegt, sofort wieder zurückzukommen, falls sie in ihrer neuen Arbeitsstelle nicht das fand, was sie erhoffte.
Tanja dachte lächelnd an jenen Tag, als Dr. Wollner sie in sein Sprechzimmer gebeten hatte, nachdem alle Patientinnen bereits die Praxis verlassen hatten. Mit etwas gemischten Gefühlen war die junge Sprechstundenhilfe zu ihrem Arbeitgeber gegangen, in der Meinung, irgendeinen Fehler gemacht zu haben, von dem sie doch noch nichts wußte.
Erwartungsvoll hatten Herr und Frau Wollner ihr entgegen-geblickt und ihr dann etwas unsicher einen Brief überreicht. Es war eine Zusage auf eine Bewerbung, die sie nie geschrieben hatte.
Zuerst hatte Tanja gar nichts verstanden, doch dann hatte Frau Doktor Wollner ihr die ganze Geschichte mit der Zeitungsannonce erklärt.
Tanja hatte hin und her überlegt, tagelang, was sie tun sollte. Die Entscheidung war ihr nicht leichtgefallen.
Doch dann hatte sie sich dafür entschieden, das Angebot anzunehmen. Sie hatte ihre Koffer gepackt, und Dr. Wollner hatte sie zur-Bahn gebracht.
Mit leichtem Gepäck hatte sie eine Woche später selbst die Reise angetreten, und nun rief der Schaffner auch schon das kleine Städtchen Olsberg aus.
Tanja hatte das Gefühl, als hätte ihr Herz einen riesigen Sprung bis in den Hals gemacht. Ihre Knie waren weich wie Butter, als sie sich erhob, nach der Reisetasche griff und das Abteil verließ. Dann hielt der Zug mit einem leichten Ruck, und Tanja stieg aus. Unsicher blieb sie stehen und blickte sich auf dem menschenleeren Bahnsteig suchend um.
»Sind Sie Frau Seeberger?« Ein alter Mann kam schwerfällig auf sie zu gehumpelt. Er hatte ein etwas rotes Gesicht, ein freundliches Lächeln und ausdrucksvolle graue Augen.
Offensichtlich hatte er die Sechzig schon ein ganzes Stück überschritten. Dennoch war der Ausdruck seines Gesichts so lebendig wie der eines jungen Mannes. »Ich bin gekommen, um Sie abzuholen«, fuhr er fort, ohne eine Antwort abzuwarten.
Im ersten Moment wußte Tanja nicht, was sie sagen sollte. Dann jedoch nickte sie. »Ic h freue mich«, beeilte sie sich zu versichern. »Das heißt, im Augenblick freue ich mich noch nicht so sehr, da ich nicht weiß, was mich erwartet.«
»Sie sind ganz schön ehrlich, Frau Seeberger .« Der ältere Mann griff nach ihrer Reisetasche. »Ich bin übrigens Max, auf Gut Dreieichen Mädchen, oder besser Junge für alles. Ich bin für den Park zuständig, für die Wege, ich muss aufpassen, dass bei den Pferden alles in Ordnung ist, und wenn es gilt, irgendwelche Fahrten zu machen, dann ist das auch meine Aufgabe.«
»Und das alles schaffen Sie?« Tanja war beeindruckt. »Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie damit den ganzen Tag zu tun haben.«
Der Mann, der sich als Max vorgestellt hatte, nickte. »Mir gefällt es. Kommen Sie, junge Dame, Frau von T arlton wartet bereits auf
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