Das Mädchen von San Marco (German Edition)
haben, aber er konnte sich durchaus auch irren. Wenn nun eine andere die Zeilen verfasst hatte? Jemand, der gar nichts mit ihr zu tun hatte?
Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Sanft strich er mit dem Finger über das Blatt. Es war sorgfältig dreifach zusammengefaltet. Er hielt es sich unter die Nase, roch daran. Es verströmte einen süßen, exotischen Geruch. Langsam faltete er es auseinander. Es war mit Bleistift beschrieben, in einer so kleinen und zarten Handschrift, dass er es zum Lesen dicht vor die Augen halten musste. Eine Stimme aus dem Reich der Toten.
Leb wohl, mein Lieb –
Als ich am Thor dich sah, ein Weilchen bloß,
da ich, gekettet an mein Sklavenlos,
Wohl wusste, was mein ganzes Sein begehrt –
dein Anblick – wird für immerdar verwehrt:
O Lieb, da brach mein Herze schier,
Heiß strömten Thränen für und für.
So wünsch ich mich zu dir, dass ich dir sag:
Vielleicht nimmt ja nach diesem bitt’ren Tag
Das Schicksal einen gütigeren Lauf,
Hebt uns’re bitt’re Trennung auf:
Und hält es mich auch noch gefangen hier,
Mein wehes Herz, o Liebster, ist bei dir.
Doch in der allertiefsten Nacht,
Wenn selbst der Mond ums Augenlicht gebracht,
Und von den dunklen Thürmen der Moscheen
Der Heiden seltsam klagend Seufzer wehn,
Da lieg ich wach und hör der Wahrheit Wort:
Du bist verloren mir, auf immer fort.
O denk an mich, vergiss mich nicht,
Siehst du von Englands sanftem Licht
Mit weichem güld’nem Schimmer übergossen
Die Gärten, die einst wandelnd wir genossen,
Da unser war die Welt und alle Zeit.
Unendlich der Gedanken Seligkeit.
O denk an mich, die am Gestade
Des Bosporus verlassen, ohne Gnade,
Geht unter fremder Bäume Blütenflor,
Den theuren Namen flüstert vor dem Thor.
Denn meine Liebe lebt und wird bestehn,
Muss auch mein Herz daran zugrunde gehn.
Sie hatte es also gewusst! Die ganze Zeit über hatte Celia gewusst, dass er noch in Konstantinopel war. Ob sie es durch Carews Zuckerschiff oder sein eigenes Kompendium erfahren hatte, spielte keine Rolle. So viel war zumindest aus dem Gedicht zu erfahren. Doch was den Rest anging … Es sah so aus, als habe ihr jemand eingeredet, dass sie ihn wiedersehen würde. Sie hatte irgendwo gewartet, in der Hoffnung, ihn zu sehen, geglaubt, dass er zu ihr kommen würde – doch natürlich war er nie gekommen. Hatte sie sich im Stich gelassen gefühlt? Lieber Gott! Hätte er doch dieses teuflische Papier niemals zu Gesicht bekommen. Weit davon entfernt, ihn von seinem Kummer zu befreien, vergrößerte es seine Pein nur noch.
Von quälenden Gedanken heimgesucht, setzte sich Paul in Bewegung, schlängelte sich durch schmale calli und über zahllose Brücken. Das Wasser in den Kanälen war pechschwarz. Er hatte keine Ahnung, wohin er ging, seine Füße stolperten wie von selbst vorwärts. So gelangte er auf einen kleinen campo mit einem Stein in der Mitte und sah, dass zwei Häuser vernagelt und mit schwarzen Kreuzen markiert waren. Erschrocken taumelte er weiter.
Irgendwann fand er sich auf einer breiteren Straße wieder, und dann gewahrte er zu seiner Überraschung in der Ferne eine schemenhafte Gestalt mit einem Turban, die vor ihm durch den Nebel huschte. Konnte es sein, dass … Ja, in der Tat, es war Ambrose!
Paul folgte ihm, auch wenn er nicht genau wusste, warum er es tat. Vielleicht trieb ihn der Gedanke an, dass Ambrose den Diamanten – seinen Diamanten! – irgendwo in den voluminösen Falten seiner Kleidung versteckt haben musste. Er wurde von ihm angezogen wie von einem Irrlicht, und ihm kam auf einmal die Idee, dass er Ambrose einholen, ihn von hinten erdolchen, ihm den Diamanten abnehmen und ihn wie ein abgestochenes Schwein in einer nach Urin stinkenden Gasse seinem Schickal überlassen sollte. Doch das würde ihm nie gelingen, denn die schlaflosen Tage und Nächte und der viele Wein hatten ihn vollständig entkräftet – und außerdem wurde ihm nun klar, dass er seinen Dolch im ridotto zurückgelassen hatte.
Wenn doch Carew hier wäre! Im Geist hörte Paul das befriedigende Knacken eines zerberstenden Schädels, den Carew mit bloßen Händen zerdrückte. Doch Carew war nicht bei ihm, und wahrscheinlich würde er es nie wieder sein. Er hatte ihn mit seinen bitteren Anklagen vertrieben. Was hatte er getan? Selbst Carew hatte ihn verlassen. Bei diesem Gedanken verspürte er einen schmerzlichen Stich des Bedauerns.
Paul zitterte, ob vor Erschütterung oder Kälte, wusste er selbst nicht. Erst in diesem Moment
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