Das Mädchen von San Marco (German Edition)
Vestibül hinter dem Vorhang. Hastig löste er die Bänder und nahm die Maske ab. Neben dem po stand ein Becken mit kaltem, klarem Wasser und etwas Leinzeug. Er begann sich Wasser ins Gesicht zu spritzen, tauchte dann aber kurz entschlossen den ganzen Kopf ins Becken und spürte, dass der Nebel darin sich etwas lichtete.
Es war zweifellos nur die Erschöpfung gewesen, die ihm einen Streich gespielt hatte. Es konnte gar nicht anders sein. Er wusste, dass Schlafmangel manchmal zu Wachträumen führte. Doch irgendwo hatte sich ein peinigender Misston festgesetzt, der im Raum widerhallte, fast unhörbar und weit entfernt wie das Läuten einer winzigen, gesprungenen Glocke.
Die Demaskierung der Kurtisane hatte alle verwirrt. Absichtlich oder unabsichtlich – Paul wusste es nicht – spielten sie nun anders. Der Kaufmann und der ältere Adlige, die beide bereits hohe Verluste hatten hinnehmen müssen, stießen bald an ihre Grenzen. Der Kaufmann gab als Erster auf. Mit einem Gesicht, dem man die Bestürzung ansah, stand er auf und taumelte wortlos aus dem Zimmer. Der Adlige folgte ihm wenig später, nachdem Paul seinen fluxus mit einem Siebener- chorus überboten hatte.
Der Adlige stand auf, nahm die Maske ab und verbeugte sich würdevoll vor jedem Einzelnen.
»Ich gratuliere Euch, Engländer.« Obwohl er genauso erschöpft aussah wie der Kaufmann, schenkte er Paul ein fahles Lächeln. »Es sieht so aus, als brächten Euch die Aale am Ende doch noch Glück.«
Die restlichen vier Spieler blickten ihm stumm nach. Als die Tür sich endgültig hinter den beiden ausgeschiedenen Mitspielern geschlossen hatte, sah der junge Edelmann Paul forschend an.
»Aale?«
»Nein, keine Aale. Lampreten.«
»Lampreten?«, wiederholte der junge Mann zweifelnd. »Nun, wenn Ihr meint, mein Freund.« Mit einem blasierten Lachen krempelte er sich die Ärmel hoch. »Kommt, worauf wartet Ihr? Lasst uns spielen.«
Worauf wartete er? Das war die Frage. Wie oft hatte Paul sie sich schon gestellt! Wartete er auf den Moment, in dem er mit endgültiger Sicherheit wissen würde, dass Celia nie zurückkehrte? Auf den Moment, in dem er ein anderes Leben beginnen konnte? Darauf, wieder einmal irgendetwas zu fühlen? Doch welches Leben gab es für ihn außerhalb dieses Raums? Wie auch immer dieses Leben aussehen mochte, er war sich nicht sicher, ob er es überhaupt noch wollte.
Er hatte sein ganzes Vermögen aufs Spiel gesetzt, um herauszufinden, was das Schicksal für ihn als Gegengabe auf Lager hatte. Alles oder nichts. Eine Art Tod. Eine Sühne, könnte man fast sagen. Ganz gleich, was Carew dazu sagte, er musste alles aufs Spiel setzen, weniger hätte keinen Sinn gehabt.
Am frühen Morgen des dritten Tages sah es so aus, als sollte er vom Schicksal eine Antwort erhalten. Die Kurtisane hatte sich inzwischen auch aus dem Spiel zurückgezogen, sodass sie nur noch zu dritt waren: der junge Adlige, der Mann mit der goldenen Maske und Paul.
Der Raum füllte sich erneut mit Schaulustigen. Aasgeier, die auf die Beute warten, dachte Paul. Irgendwann meinte er aus dem Augenwinkel eine vertraute Gestalt mit Turban zu sehen. War das etwa Ambrose? Was um aller Welt tat er hier? Doch als er noch einmal hinsah, war die Gestalt verschwunden.
Und dann geschah es, dass das Glück ihm wie durch ein Wunder endlich hold war.
Mit einem fluxus gewann er neunundsechzig, mit einem numerus fünfundfünfzig Punkte. Der Stapel aus Gold- und Silbermünzen vor ihm auf dem Tisch wurde immer höher.
Die Kurtisane rückte ihren Stuhl näher zu ihm heran.
»Es sieht so aus, als ob ich Eure Glücksfee wäre, Engländer«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Nach zwei Nächten ohne Schlaf roch ihr Atem schal, doch Paul war zu vertieft in seine Karten, um darauf zu achten.
Die Zuschauer drängten sich um den Tisch, doch er nahm sie kaum wahr. Sein Herz schlug gleichmäßig und schnell, das Blut strömte warm durch seine Adern. Sein Inneres, seine Haut, seine Fingerspitzen pulsierten vor Energie. Er fühlte sich lebendiger als je zuvor in seinem Leben.
Alles außer den Karten war vergessen. Sein Kampf mit Carew. Celia. Sogar der Blaue Stein des Sultans. Der ferne Klang der warnenden Glocke war verhallt, die dissonanten Töne verklungen.
Mit einem Sechser-Lauf zwang er den Mann mit der goldenen Maske zur Aufgabe.
Das Glück lächelte ihm zu. Er war unbesiegbar.
Memmo brachte neue Karten. Gab sie dem jungen Adligen zum Mischen. Sie deckten auf, teilten aus. Jetzt waren sie nur
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