Das Magdalena-Evangelium: Roman
worden, woraufhin die Überlebenden in Schottland Zuflucht gesucht hatten. Dort war der Nachname dann nach und nach anglisiert worden, bis er seine heutige Form erreicht hatte. Zu Berengers Vorfahren gehörten einige der berühmtesten Persönlichkeiten der britischen Geschichte, einschließlich James I . von England und dessen viel geschmähte Mutter Maria Stuart, Königin der Schotten.
Der einflussreichen und klugen Familie Sinclair war es gelungen, sämtliche Bürgerkriege und politischen Unruhen Schottlands zu überleben, indem sie in der stürmischen Geschichte des Landes immer wieder die Seiten gewechselt hatte. Als einer der führenden Industriekapitäne des zwanzigsten Jahrhunderts hatte Berengers Großvater schließlich als Gründer der North Sea OilCorporation eines der größten Vermögen Europas angehäuft. Als mehrfacher Milliardär und britischer Peer mit einem Sitz im House of Lords hatte Alistair Sinclair alles gehabt, wovon ein Mann nur träumen konnte. Dennoch war er nie zur Ruhe gekommen, war nie zufrieden gewesen; stets hatte er nach etwas gesucht, was er mit seinem Vermögen nicht hatte kaufen können.
Großvater Alistair hatte es nach Frankreich gezogen, und so hatte er nahe dem Dorf Arques im zerklüfteten, geheimnisvollen Südwesten, der als das Languedoc bekannt war, einen riesigen Landsitz erworben. Er nannte sein neues Heim »Château des Pommes Bleues«, Schloss der blauen Äpfel. Die Gründe dafür waren nur einigen wenigen Eingeweihten bekannt.
Das Languedoc war ein gebirgiges Land voller Mysterien. Einheimische Legenden von vergrabenen Schätzen und geheimnisvollen Rittern reichten Hunderte, ja Tausende von Jahren zurück. Alistair Sinclair war mehr und mehr fasziniert von der Geschichte des Languedoc und begann, alles Land in der Region anzukaufen, das er kriegen konnte, und mit wachsender Leidenschaft nach einem Schatz zu suchen, von dem er glaubte, er sei dort vergraben. Dieser Schatz hatte jedoch nichts mit Gold und Silber zu tun; davon hatte Alistair ohnehin mehr als genug. Es war etwas, das weit wertvoller für ihn war, für seine Familie und für die ganze Welt. Je älter er wurde, desto weniger Zeit verbrachte er in Schottland, und Glück fand er nur noch in den wilden roten Bergen des Languedoc. Alistair bestand darauf, dass sein Enkel im Sommer bei ihm lebte, und schließlich weckte er auch in dem jungen Berenger die gleiche Leidenschaft, ja Besessenheit für dieses mystische Land.
Berenger Sinclair, der inzwischen Mitte vierzig war, hielt erneut auf seinem Weg durch die große Bibliothek an, diesmal vor einem Porträt seines Großvaters. Die kantigen Gesichtszüge, das lockige dunkle Haar und die kraftvollen Augen vermittelten ihm das Gefühl, als würde er in einen Spiegel schauen.
»Sie gleichen ihm sehr, Monsieur. Tatsächlich ähneln Sie ihm sogar von Tag zu Tag mehr.«
Sinclair drehte sich zu seinem Diener Roland um. Für solch einen riesigen Mann konnte Roland überraschend leise sein, sodass er manchmal wie aus dem Nichts einfach auftauchte.
»Und? Ist das gut?«, fragte Berenger ironisch.
»Natürlich. Monsieur Alistair war ein feiner Mann. Die Dörfler haben ihn sehr geliebt – wie auch mein Vater und ich.«
Sinclair nickte und lächelte schwach. Dass Roland das sagte, war nur natürlich. Der französische Riese war ein Sohn des Languedoc. Sein Vater stammte aus einer einheimischen Familie mit tiefen Wurzeln in diesem legendären Land und war Alistairs Hausverwalter gewesen. Roland war auf dem Landgut aufgewachsen und verstand die Familie Sinclair und ihre exzentrischen Leidenschaften. Nach dem plötzlichen Tod seines Vaters war Roland in dessen Fußstapfen als Verwalter des Château des Pommes Bleues getreten. Er war einer der wenigen Menschen auf der Welt, denen Berenger Sinclair vertraute.
»Ich habe Sie gehört, wenn ich das sagen darf. Wir arbeiteten drüben im Saal, Jean-Claude und ich, und wir hörten, wie Sie die Worte der Prophezeiung sprachen.« Fragend schaute er Sinclair an. »Stimmt etwas nicht?«
Sinclair durchquerte den Raum zu dem großen Mahagonischreibtisch, der die gegenüber liegende Wand beherrschte. »Doch, doch, Roland. Alles bestens. Tatsächlich glaube ich, dass endlich, endlich alles in Ordnung kommen wird.«
Er griff nach dem Buch, das auf dem Tisch lag, und zeigte das Cover seinem Diener. Es war ein modernes Sachbuchcover, und der Titel darauf lautete: HER story , gefolgt von dem Untertitel: Ein Plädoyer für die
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