Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
eigenen Blut von ihren Sünden reinzuwaschen.
Die mittelalterliche Praxis der Selbstgeißelung hatte Maureen immer schon abgestoßen. Es konnte nicht Gottes Wille sein, dass der Mensch sich zu seinem Ruhm geißelte. Und gerade Maria Magdalena, der Königin der Barmherzigkeit und Lehrmeisterin der Liebe und Vergebung, hätten solche Praktiken bestimmt nicht gefallen.
Noch etwas war seltsam: Die Komposition des Gemäldes war eine Provokation, denn es ahmte berühmte Dreifaltigkeitsbilder der Frührenaissance nach. Auf diesen Gemälden saß Gottvater auf dem Thron und hielt als Abbild seines Sohnes ein Kruzifix auf dem Schoß; darüber schwebte der Heilige Geist in Gestalt einer Taube. Auf diesem Banner jedoch war Maria Magdalena die zentrale Gestalt, die das Kruzifix mit Jesus im Schoß hielt und auf diese Weise ungeheure Macht erhielt. Hier schien Magdalena selbst die Königin des Himmels zu sein, die von den Verhüllten angebetet wurde – und das würde selbst in der heutigen Zeit noch als Ketzerei betrachtet. Im Mittelalter hätte die Anbetung der Magdalena den sicheren Tod bedeutet.
Und dann dieser seltsame Satz in der Bildbeschreibung: »Die nur leicht skizzierten Züge Christi sind jüngeren Datums. Das Gesicht Jesu wurde vom Original entfernt und befindet sich heute im Campo Santo Teutonico in Rom.« Spuren von Zerstörung waren am Banner zu erkennen: Ein Flicken saß auf dem Schnitt, wo auf dem Kruzifix das Gesicht Jesu gewesen war – angeblich das Original, das herausgeschnitten und nach Rom gebracht worden war. Aber warum? Warum sollte jemand ein Interesse daran haben, das erlesen schöne Gemälde eines italienischen Meisters zu entstellen?
Bei ihrer Suche nach der Wahrheit über geheime Aspekte des Christentums hatte Maureen vor allem eines gelernt: Niemals etwas für bare Münze zu nehmen und nie der ersten und offensichtlichen Erklärung zu trauen, besonders nicht in der Symbolweltder Kunst. Sie nahm ihr Handy aus der Tasche, schaltete auf Kameramodus, fotografierte das Banner Stück für Stück und speicherte es für spätere Nachforschungen.
Die Digitalanzeige auf dem Display ermahnte Maureen, dass ihre Besuchszeit sich dem Ende näherte. Sie steckte das Handy zurück in die Tasche und blieb noch einen Augenblick in stummer Bewunderung vor dem Gemälde stehen. Fragen, die sie sich schon viele Male bei der Betrachtung religiöser Kunst gestellt hatte, schossen ihr erneut durch den Kopf.
Welche Geschichten du mir wohl erzählen könntest? Wer hat dich so gemalt und warum? Was hast du den Trägern deines Banners wirklich bedeutet? Und schließlich die Frage, die Maureen an jedem Tag ihres Lebens verfolgte: Was willst du jetzt von mir?
Doch heute schwieg Maria Magdalena. Ruhig und in sich ruhend schaute sie Maureen mit einem so heiteren und doch rätselhaften Ausdruck an, dass Mona Lisa vor Neid erblasst wäre.
Noch einmal las Maureen die Beschreibung – und diesmal schnappte sie nach Luft. Erst jetzt, beim zweiten Lesen fiel es ihr auf: »… wurde von der Bruderschaft der heiligen Maria Magdalena in Borgo San Sepolcro in Auftrag gegeben …«
Borgo San Sepolcro.
Die Übersetzung aus dem Italienischen war simpel: Ort des Heiligen Grabes.
Maureen blickte auf den antiken Ring an ihrem Finger. Der Ring stammte aus Jerusalem und trug das Siegel der Maria Magdalena. Es war das Symbol des Ordens vom Heiligen Grab, dem die Welt Mathilde von Tuszien verdankte; der Orden, in dem die reinste Lehre Jesu und das Buch der Liebe gehütet wurden; der Orden, dessen Meister Destino war und in den sie, Maureen, in Kürze eingewiesen werden sollte.
Konnte es sein, dass eine ganze Stadt in Italien dem Orden des Heiligen Grabes geweiht war?
Maureen hatte ihre Recherchen und ihre schriftstellerische Arbeit schon oft mit einer Collage verglichen. Viele kleine Beweisstückeergaben einzeln betrachtet zunächst wenig Sinn. Erst wenn man sie zusammenfügte und darüber nachdachte, wie sie einander ergänzen könnten, schuf man etwas. Und hier schien ein erstaunlicher Stein zu dem Mosaik zu sein, das Maureen zusammensetzte.
Sie warf einen Blick auf die anderen Besucher im Saal. Nur wenige schlenderten bis zu dessen Ende, und wenn, gönnten sie dem Prozessionsbanner nur einen flüchtigen Blick und kehrten gleich wieder um. Wie hätten sie auch wissen können, dass dieses Banner möglicherweise ein bedeutender Schlüssel zur Lösung eines der größten Rätsel der Geschichte war?
Maureens Gedanken überschlugen sich.
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