Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
Ein stets wiederkehrendes Element der Lehre war, dass die Liebe ein Geschenk Gottes an uns Menschen sei. Doch so einfach diese Vorstellung auch war, die Ketzerei begann bereits hier. Denn im Buch der Liebe war Gott kein Patriarch, nicht bloß Unser Vater, sondern Unser Vater in vollkommener Einheit mit Unserer Mutter. Auf den ersten Seiten des Libro Rosso stand Maureens Lieblingspassage:
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Doch Gott war kein einzelnes Wesen und herrschte nicht allein über das Universum, sondern mit seiner Gefährtin, die seine Geliebte war.
Und so sagt Gott im Ersten Buch Mose, das Genesis genannt wird: »Lasst uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei …« Dabei spricht er mit seiner anderen Hälfte, seinem Weib. Denn die Schöpfung ist ein Wunder, das nur perfekt gelingt, wenn das männliche und weibliche Prinzip sich vereinen. Und der Herr, unser Gott, sprach: »Siehe, der Mensch ist Teil von uns geworden.«
Und im Ersten Buch Mose steht: »Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde … und schuf ihn als Mann und Weib.«
Wie kann es da sein, dass Gott das Weib nach seinem eigenen Bilde erschaffen hat, wenn er kein weibliches Bild hatte? Das aber tat er, und das Weib wurde zuerst Athiret genannt. Später war Athiret den Hebräern als Ashera bekannt, als Göttliche Mutter, und den Herrn nannten sie El, den Himmlischen Vater.
Und so geschah es, dass es El und Ashera danach verlangte, ihrer heiligen Liebe einen körperlichen Ausdruck zu verleihen und diesen Segen mit den Kindern zu teilen, die sie hervorzubringen gedachten. Jede Seele, die sie erschufen, bekam einen Zwilling, entsprungen derselben Essenz. Im Buch Genesis wird dies erzählt als Adams Zwilling, ein Weib, das aus seiner Rippe erschaffen wird, aus seinem Stoff also,denn sie ist Fleisch von seinem Fleisch, Bein von seinem Bein, Geist von seinem Geist.
Dann sagte Gott: »Und sie werden sein ein Fleisch.«
So entstand der Hieros gamos, die heilige Hochzeit, die die Liebenden eins werden lässt. Dies ist das heiligste Geschenk, das wir von unserem Vater und unserer Mutter im Himmel empfangen haben. Denn wenn wir im Brautgemach zusammenkommen, finden wir die göttliche Vereinigung, die El und Ashera sich für ihre irdischen Kinder gewünscht haben, im Licht reiner Freude und wahrer Liebe.
Wer Ohren hat zu hören, der höre.
El und Ashera und die Heiligen Ursprünge
des Hieros gamos, aus dem Buch der Liebe,
wie es im Libro Rosso bewahrt worden ist
Seit sie Berenger kannte, hatte Maureen sich dem Hieros gamos in allen seinen Formen verschrieben. Ihr waren die Augen geöffnet worden für eine Art von Liebe, die für sie vorher nur in Märchen und Sagen existiert hatte. Doch diese sagenhafte Einheit, diese allumfassende, stärkende Liebe gab es auch in Wirklichkeit. Und wenn Maureen diese Liebe erfahren und durch sie verändert werden konnte, musste das auch allen Menschen möglich sein. Berenger und sie hatten begriffen, dass dies ein Teil ihres Schicksals war: Sie sollten anderen helfen, eine ebenso gesegnete Liebe zu finden.
Maureen klappte ihr Buch zu und freute sich darauf, El und Ashera in ihren Träumen wiederzubegegnen.
Doch Maureens Träume richteten sich nicht nach ihren Wünschen.
Normalerweise waren ihre Träumen klar und verständlich. Es waren ganze Sequenzen und zusammenhängende Bilder, die jedesMal wichtige Botschaften enthielten oder Hinweise, denen sie folgen sollte. In dieser Nacht aber war es anders. Dieser Traum war chaotisch, fieberhaft, voller aufblitzender Bilder, Geräusche und Gefühle. Außerdem sprang er zwischen verschiedenen Schauplätzen hin und her; manche Bilder schienen einen inneren Bezug zu haben, andere waren zusammenhanglos und wirr. Aber eine Konstante gab es, die sich durch alle Sequenzen zog. Egal, wo und wann die Traumszenen spielten, die aufblitzenden Visionen enthielten stets das Element des Feuers.
Feuer.
Hell und heiß loderten die Flammen auf dem Marktplatz, angefacht durch das Pech, das man auf die Kienspäne geschüttet hatte. Hunderte von Menschen hatten sich um den Scheiterhaufen versammelt, auf dem der Verurteilte verbrannt werden sollte. Oder waren es mehrere? Schweiß rann den Zuschauern über die Gesichter, während vor ihren Augen die Hölle loderte. Die Menschen weinten – doch plötzlich jubelten sie.
Es waren zwei Feuer. Zwei Scheiterhaufen, zwei verschiedene Städte. Die Szene sprang hin und her. In der ersten Stadt konnte Maureen in der Menge
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