Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
Magdalenas Kraft ausstrahlte. Piero hatte sie keineswegs als Sünderin dargestellt, denn er hatte nie an die Legende der bußfertigen einstigen Hure geglaubt – eine Propaganda aus dem sechsten Jahrhundert. Auf seinem Fresko warsie eine Königin. Maureen hatte eine gerahmte Reproduktion des Gemäldes in ihrem Arbeitszimmer hängen. Sie hatte Piero della Francesca in den letzten Jahren gründlich studiert und fand ihn faszinierend. Seine Fresken in Arezzo waren anrührend menschlich, voller Leben und voller Geschichten. Beim Betrachten seines Werks spürte Maureen eine verwandte Seele: Auch Piero war ein Geschichtenerzähler, nur dass er diese Geschichten auf seinen Gemälden erzählte. Er hatte »Die Legende des Wahren Kreuzes« detailreich und aufwendig dargestellt, und er hatte der »Begegnung zwischen Salomon und der Königin von Saba« tiefe Frömmigkeit eingehaucht. Seine Kunst versinnbildlichte die höchsten Lehren des Ordens vom Heiligen Grab.
Etwas über den Orden zu lesen erinnerte Maureen daran, dass sie Vorbereitungen für ihre Rückkehr nach Europa treffen musste. In Paris war sie mit ihrem französischen Verleger verabredet, denn der Erscheinungstermin für die französische Ausgabe stand bevor. Maureen freute sich stets auf Paris, das sie sehr liebte. Außerdem hatte ihre beste Freundin, Tamara Wisdom, eine Filmemacherin, sie schon lange bekniet, sich endlich wieder blicken zu lassen. Auch Peter Healy, Maureens Cousin und geistlicher Berater, lebte in Paris. Einst war er Geistlicher gewesen, doch nun mied er den Vatikan und würde vielleicht nie mehr dorthin zurückkehren. Er bezeichnete sich auch nicht mehr als Mann Gottes und trug den Priesterkragen nicht mehr.
Maureen brannte darauf, von den neuesten Entwicklungen zu hören. Sie beschloss, nach Paris zu fliegen, ihre Termine abzuhaken und dann mit Tammy in den Südwesten des Landes zu fahren, wo ihre beiden Liebsten sie in Berengers Schloss, dem Château des Pommes Bleues, erwarteten. Tammy war inzwischen mit Roland Gelis verlobt, einem sanften Hünen aus dem Languedoc und Berengers bester Freund seit Kindertagen. Sie lebten im Tal der Aude, in der Nähe von Arques, einem magischen Teil des Languedoc. Berenger, Erbe eines schottischen Ölimperiums, hatte das Château von seinem Großvater geerbt. Es war ausschließlichzu dem Zweck erbaut worden, Sitz einer Vereinigung zum Schutz gefährlicher häretischer Geheimnisse zu sein. Diese Geheimnisse hatte Berenger zusammen mit seinem französischen Schloss geerbt.
Es war schon zu spät, um mit Berenger zu telefonieren, aber morgen früh, wenn in Frankreich Mittagszeit war, würde Maureen ihn anrufen und bitten, sie nach Florenz zu begleiten. Destino hatte allen geschrieben, dass er Chartres verlassen und nach Florenz zurückkehren wolle, und zwar »ein für alle Mal«. Das klang endgültig, beinahe so, als bereite er sich darauf vor, in Italien zu sterben. Der Brief hatte Maureen sehr aufgewühlt. Destino war – buchstäblich – uralt, und es war unausweichlich, dass er bald sterben würde. Doch nun, da Maureen wusste, wer dieser Mann wirklich war und welche Weisheit er die Welt lehren konnte, war der Gedanke an seinen Tod kaum zu ertragen.
Destino schrieb, dass er Maureen binnen kurzer Zeit vieles lehren müsse; deshalb sei es wichtig, dass sie sich vor ihrer Ankunft in Florenz mit dem Libro Rosso vertraut mache. Ihm bleibe keine Zeit mehr, ihr und den anderen die Grundlagen des Ordensdogmas beizubringen. Stattdessen müssten sie besondere Aufgaben erfüllen – als Vorbereitung auf die Mission, auf die sie sich begeben würden. Auf »die Mission« legte Destino besonderen Nachdruck.
Also nahm Maureen sich ihr Exemplar des Libro Rosso vor. Destino hatte allen eine Übersetzung dieses Buches geschenkt, und derzeit studierten Maureen, Berenger, Tammy, Roland und Peter es gleichzeitig. In diesem heiligen Roten Buch waren die tiefsten Geheimnisse der Christenheit aufgezeichnet.
Maureen hatte das Libro Rosso als Grundlage für ihren Roman Die Zeit kehrt wieder: Die Legende vom Buch der Liebe benutzt, ein Roman über jene tapferen Menschen, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten, um die kostbaren Lehren dieses Buches zweitausend Jahre lang zu bewahren. Doch nun war es an der Zeit, seine Glaubenssätze erneut zu studieren und einige Abschnitte auswendig zu lernen. Es war keine Mühe, im Gegenteil:Im Libro Rosso standen die schönsten Worte, die Maureen je gelesen hatte.
Sie nahm das Buch mit ins Bett.
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