Das magische Buch
nicht aufzuwecken.
»Hör zu, Papa …
Das helle Schwefellicht drang so heftig in Hannas Augen, dass es schmerzte. An ihrer Seite saß Nevalia, die sich sehr anstrengen musste, um die glühende unsichtbare Tinte, die sie über das Papier gleiten ließ, fest im Blick zu behalten. Ihre Augen tränten, doch ihre Hand blieb fest.
›Hanna, dieses Buch ist einzigartig‹, sagte sie, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. ›Niemand außer dir wird es lesen können. Also achte gut darauf, was ich schreibe, denn du wirst der einzige Mensch auf der Welt sein, der den Text entschlüsseln kann.‹
Die Prinzessin nickte. Sie war sich der Verantwortung bewusst, die sie übernommen hatte. Alles lief auf das große Ziel hinaus.
Tags zuvor war Nasshan aufgebrochen, um unter Einsatz seines Lebens den Weg auszukundschaften, der sie zu Scroom führen sollte.
›Die Tochter von König Ignacius darf nicht scheitern‹, sagte Hanna zu sich selbst. ›Wenn ich eines Tages Königin werden will, muss ich beweisen, dass ich die Größe dazu habe.‹
Nicht eine Sekunde ließ ihre Aufmerksamkeit nach. Mit leiser Stimme las sie den Text, der vor ihr niedergeschrieben wurde, und versuchte sich ihn einzuprägen. Ihre Augen brannten, doch sie beklagte sich nicht. Nicht ein Laut des Jammers kam über ihre Lippen. Niemand schien zu bemerken, dass sie litt. Nur Sigfrido kam zu ihr und sagte:
›Prinzessin, ich habe dir eine Tinktur gebracht. Sie wird deinen Augen guttun und deine Schmerzen ein wenig lindern.‹
Hanna dankte dem Pagen für seine Fürsorge und küsste ihn auf die Wange.
›Hab Dank, mein Freund‹, sagte sie. ›Sie wird mir von großem Nutzen sein.‹
Und sie schenkte ihrem Pagen ein zärtliches Lächeln. Er war ihr bei ihren gefährlichen Abenteuern nicht nur stets ein getreuer Begleiter, sondern beschützte und umsorgte sie liebevoll. Hanna fragte sich, ob er wirklich nur ein einfacher Diener für sie war oder ob zwischen ihnen mehr als nur bloße Freundschaft bestand.
›Setz dich hierher, ich möchte dir die Augen mit der Tinktur auswaschen‹, sagte Sigfrido.
Als Hanna die Flüssigkeit in ihren Augen spürte, durchzuckte sie der Gedanke, dass sie womöglich blind werden könnte. Doch sie wischte ihn beiseite und dachte wieder an ihre Aufgabe. Mehr denn je war sie bereit, sich ihrer Verantwortung zu stellen.
›Das müssen wir alle zwei Stunden machen‹, sagte Sigfrido. ›Ich werde dich daran erinnern.‹
Und Hanna erkannte, dass Sigfridos Fürsorge wichtiger für ihr Augenlicht war als die heilende Tinktur. «
Als ich zu Ende gelesen habe, bemerke ich Lucía. Keine Ahnung, wann sie hereingekommen ist. Ich war zu sehr mit dem Lesen beschäftigt.
Sie kommt zu mir und legt mir die Hand auf die Schulter.
»Mach dir keine Sorgen«, sagt sie. »Er wird wieder gesund, du wirst sehen. Bestimmt hat er dich gehört.«
»Ich weiß nicht … Aber er muss einfach wieder gesund werden! Das magische Buch wird richtig gut. Das müsste ihm eigentlich Mut machen … Ich verstehe das nicht …«
»Vielleicht ist es ja der Blutdruck … oder die Nerven …«
In diesem Moment bewegt sich Papa. Er sagt etwas, das wir nicht verstehen.
»Ich rufe den Arzt«, sagt Mama und steht auf.
»… Nasshan …«, murmelt Papa. »… im Nachttisch …«
»Was hat er gesagt?«, fragt Javier.
»Etwas von Nasshan …«
»Er fantasiert«, stellt Mama fest. »Er hat etwas von dem Nachttisch gesagt …«
»Von was für einem Nachttisch?«, fragt Lucía.
»Ich glaube …«
Ich stehe auf und gehe zu dem Nachttischchen, das neben seinem Bett steht. Ich mache die oberste Schublade auf und schaue hinein. Neben Tablettenschachteln liegen ein paar beschriebene Blätter.
»Neue Seiten von dem Magischen Buch !«, rufe ich aufgeregt.
»Ich fasse es nicht«, sagt Lucía. »Er hat weitergeschrieben!«
»Er spielt mit seinem Leben, nur um dieses verdammte Buch zu Ende zu schreiben!«, ruft Javier.
Mama beugt sich zu Papa hinunter, nimmt seine Hand und fängt an zu weinen.
Lucía und ich sehen uns an, und ohne ein Wort zu sagen, nehmen wir die Seiten, die Papa geschrieben hat, und gehen hinaus.
»Hallo, Kinder«, begrüßt uns Julio, Papas Verleger, auf dem Flur. »Wie geht es deinem Vater?«
»Oh gut … Na ja, jedenfalls etwas besser«, antworte ich.
»Ich wollte mal nach ihm sehen …«
»Er schläft gerade, vielleicht gehen Sie erst mal in die Cafeteria und trinken was«, legt ihm Lucía nahe, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen.
»Hallo,
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